Ich habe Sie um ein Stichwort für meinen nächsten Blogbeitrag gebeten. Also gut: Religion
Bestimmen wir zunächst die Begrifflichkeit.
Religion kommt vom lateinischen religio. Dieses Wort hat mannigfache Bedeutung. Es kann heissen: Rücksicht, Besorgnis, Bedenken, Gewissensskrupel, Gewissenhaftigkeit, Genauigkeit, Sorgfalt und schliesslich das religiöse Gefühl, die Gottesfurcht und Frömmigkeit.
Unter Religion verstehen wir seit langem das Glaubensbekenntnis, das sich in einer sozialen Ordnung institutionalisiert hat. Bemerkenswert ist nun, dass der Plural, Religionen, voraussetzt, dass eine Pluralität der Glaubensbekenntnisse erkannt und anerkannt wird. Das ist durchaus nicht selbstverständlich, denn der Begriff der Religion hat weder im indischen Sanskrit noch im Arabischen oder Chinesischen entsprechende Wortstämme oder Wortwurzeln. (Das heisst, dass es in diesen Traditionen eigentlich keine Pluralität von Glaubensbekenntnissen, bzw. „Wahrheit“ gibt, sondern nur eine Einzige.)
Wahrscheinlich sind wieder die Griechen schuld, denn durch die Entwicklung der griechischen Philosophie des 5. und 4. Jahrhundert differenzierte sich ein Wahrheitsbegriff des Wissens von einem Wahrheistbegriff des Glaubens. Die griechischen Philosophen begannen systematisch den Glauben zu hinterfragen. Aus heutiger Sicht meinen wir, dass sich das philosophische Denken gegenüber dem Glauben innert relativ kurzer Zeit etablierte. Die Sicht der Dinge hat womöglich wenig mit der seinerzeitigen Wirklichkeit zu tun. Nur der Elite war diese neue Sicht der Dinge überhaupt zugänglich. Nur Eliten konnten sich den Luxus leisten, den Glauben zu hinterfragen.
Es gibt die historische Dimension der Religion, die unerhört wichtig ist, denn in erster Linie sind die Glaubenssysteme verantwortlich für die Struktur von Gesellschaften. Religion ist zuallererst auch eine Weise des Wissens. Das Wissen, das ich aus dem Glauben schöpfe, ist zuerst und zuletzt individuell. Man könnte dieses Wissen auch Gewissheit nennen. Das philosophische Wissen hingegen ist kommunikativ und von daher auch immer bis zu einem gewissen Masse ungewiss. Es entsteht aus der Dialektik und der spezifischen Struktur der Sprache. In diesen beiden Spähren ist auch der Wahrheitsbegriff auf unterschiedliche und eigentlich unvereinbare Weise verfasst. Die religiöse Wahrheit ist grundsätzlich absolut. Die philosophische Wahrheit ist grundsätzlich relativ. Von der Spätantike bis zur Aufklärung machte sowohl die Philosophie, die in dieser langen Phase ihrer Geschichte keine eigene Disziplin sein konnte, als auch die Theologie einen unmöglichen Spagat. Was die Renaissance womöglich für die Kunst bedeutete, nämlich die Emanzipation der Schönheit von der Religion, war die Aufklärung für die Philosophie, nämlich die Emanzipation des Denkens von der Religion.
Religionen heute – das hat etwas von einem riesigen, verwesenden Kadaver, den man nicht übersehen kann, der wegen seiner Zersetzungsprozesse überaus gefährlich, der für die meisten noch gar nicht tot ist, bzw. die Meisten nicht wahrhaben wollen, dass dieses Ding tot ist, wie ein riesiger Wal, der nun als stinkendes Aas auf dem Strand liegt, auf dem man doch viel lieber sich unbeschwert hätte sonnen wollen im Lichte der Aufklärung, als sich vor Ekel die Nase zuhalten und sich abwenden zu müssen, während andere, die ihren Tod negieren, benommen vom giftigen Leichengas über den Strand torkeln und irre Dinge tun. Die Überreste der Religionen in ihren neo-fundamentalistischen Ausprägungen, seien es junge rasierte Christen oder alte, bärtige Moslems, sind ein Problem, im Allgemeinen. Gegen die Gewissheit, die der Gläubige zu haben behauptet, ist die dialektische und dialogisch entwickelte Wahrheit der Philosophie machtlos. Kein religiöser Mensch heute lässt sich noch auf eine logische und analytische Auseinandersetzung über die Existenz Gottes ein, weil er – dank der Philosophie weiss, dass er dagegen machtlos ist. Umso mehr beharrt er gerade auf jenem Prinzip der Individualität (oder platter: der religiösen Identität), das der Aufklärung zu ihrem Sieg verhalf: die Revolution frisst ihre Kinder!
Machen wir uns allerdings nichts vor! Die Wissenschaft, das wissenschaftliche Weltbild, wie es heute von Politikern, von Interessensvertretern und von Wissenschaftlern, die ihre Forschungsgelder beschaffen müssen, vertreten wird, ist der Struktur der Religion vergleichbar. Es sind sehr ähnliche Mechanismen, die die wissenschaftlichen Seilschaften von Hochschulen und dem internationalen Wissenschafts-Establishments bestimmen, wie jene, die einst (und heute noch immer) die Kirche im Besonderen und die Religionssysteme im Allgemeinen zu den kulturbestimmenden Wissenssystemen machen. Die Wissenschaft selbst hat heute den Status einer Grossreligion. Deswegen ist die Philosophie so wichtig, besonders jene zwei Zweige, den wir die Philosophie der Wissenschaft und die Bewusstseins-Philosophie bezeichnen, denn hier liegen die Probleme der sich quasi-religiös gebärdenden Wissenschaften und ihrem totalitären Anspruch offen ausgebreitet. Das ist ihre Achilles-Ferse.
Well done!
LikeLike