Karlheinz Weinberger oder die Ballade von Jim. Limmat Verlag, Zürich, jetzt im Buchhandel

Karlheinz Weinberger wurde am 10. Juni 1921 in Zürich geboren. Dort besuchte er zwischen 1936 und 1939 das Literaturgymnasium. Seine ersten fotografischen Versuche machte er mit einer sogenannten „Fünfliber-Kamera“ (kleine Agfa-Box zum Preis von 5 Franken). 1942 absolvierte er die Rekrutenschule und leistete anschliessend militärischen Aktivdienst. Danach begann er eine Lehre als Verkäufer, die er aber nicht abschloss. Es folgte eine längere Arbeitslosigkeit, bis er schliesslich seine Lebensstellung als Lagerist bei Siemens-Albis fand. Er war dort Lagermeister für Leuchtmittel von 1955 bis zu seiner Pensionierung 1986. Er wurde schon als Jugendlicher Mitglied des Fotoklubs der Naturfreunde und erhielt dort eine technische Einführung in die Fotografie. Von 1952 bis 1967 publizierte Weinberger unter dem Pseudonym ‚Jim’ regelmässig Fotografien in der internationalen Homophilen-Zeitschrift ‚Der Kreis‘ und nahm als „Hoffotograf“ an den Veranstaltungen des Magazins vor allem im heutigen Neumarkt-Theater teil. 1960 zog sich Jim aus dem aktiven Klubleben des Kreis zurück. Seine Fotografien erschienen im Magazin bis zu dessen Einstellung und auch im Nachfolgemagazin Club 68. Dank Förderung des Finanziers Eugen Laubacher, einer der Stützen des Kreis, unternahm Weinberger anfangs der 60er Jahre verschiedene Reisen nach Sizilien, Tanger, Lipari und Lampedusa. Von 1964 – 76 war er freier Mitarbeiter bei den Sportjournalen ‚Satus-Sport‘, ‚Turnen und Sport‘ und gelegentlich beim ‚Sport‘; als freier Reporter produzierte er verschiedene Sportreportagen im In- und Ausland. 1958 entdeckte Weinberger die Halbstarken und begann diese erste schweizerische Untergrund-Jugendszene mit einer Roleiflex 2.8n zu portraitieren. Die „Halbstarken“ waren Jugendliche, die gegen Anpassung und Mainstream rebellierten. Sie trugen Jeans, die sie individuell mit Nieten, riesigen Gürtelschnallen und Aufnähern ausgestalteten. Sie verehrten Elvis und James Dean und die Clique war ihre Heimat. Weinberger fand Zugang zu dieser kleinen, aber auffälligen Randgruppe, folgte ihr und fotografierte sie. Schliesslich fanden diese Jungen auch den Weg zu seinem Haus, wo er ihnen zuweilen Unterschlupf bot. In den Jahren zwischen 1958 und 1963 entstand so eine grosse Anzahl aussergewöhnlicher Bilder. 1963 veränderte sich die Szene. Die Cliquen brachen auseinander. Viele passten sich an, wurden brav und verschwanden von der Bildfläche. Einige aber wurden zu Rockern und bildeten neue Cliquen und Gangs. Weinberger blieb ihnen auf der Spur, folgte ihnen in ihre Camps und wurde an Clubabende, Rockerhochzeiten und – nicht selten – an Beerdigungen eingeladen. Er revanchierte sich und lud zu sich ein. Die Männer kamen meistens allein, fanden in seiner Wohnung einen Rückzugsort, ein Sanktuarium, wohin ihnen weder Polizei, Freundinnen noch Gangmitglieder folgten, wo sie sich gehen lassen konnten, tranken, rauchten, sich auszogen, masturbierten… Weinberger fotografierte. Ansonsten hörte er ihnen zu, gab manchmal einen Ratschlag, meistens warmes Essen und war ihnen eine Art Schutzheiliger. Nach seiner Pensionierung widmete sich Weinberger ausschliesslich seiner Leidenschaft für diese Aussenseiter. Es entstanden umfangreiche und einzigartige Portraitserien von grosser Intensität.
Meine Zusammenarbeit mit Karlheinz Weinberger begann im Jahr 2000. In meiner Galerie, die ich damals in Zürich führte, zeigte ich 2002 die erste grosse Retrospektive ‚Gelebtes Leben‘, deren Zusammenstellung in enger Auswahl mit dem Fotografen erfolgte. Nach seinem Tod im Dezember 2006 setzte ich die Erschliessungsarbeit seines künstlerischen Werks fort. Der Nachlass wird im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich aufbewahrt.
© Nachlass Karlheinz Weinberger, Zürich