Vor ein paar Wochen – wir verfolgten das Gespräch von Michel Friedman mit Markus Gabriel (nachzusehen auf YouTube) über eben diesen Gegenstand, richtete jemand von Ihnen kurz vor Lektionsschluss die Frage an mich, was denn Wahrheit für mich bedeute? Es blieb mir nur noch ganz kurze Zeit, zwei oder drei Sätze dazu zu formulieren. Die Philosophie beschäftigt sich schlechthin mit diesem Problem und über alle Zeit und da ich irgendwann in meiner frühen Jugend bemerkte, dass es für mich wahrscheinlich kein grösseres Abenteuer geben kann, als das Denken selbst, beschäftige auch ich mich seither damit: diese Beschäftigung ist aber noch weit selbst von einer vorläufigen Antwort entfernt, womit ich Ihnen höchstens andeuten kann, wo ich derzeit damit stehe. Der Einfachheit halber könnte ich das den Sachverhalt verdunkelnde, aber mir fast wie ein Heraklit-Wort liebe Zitat von Heinz von Foerster vortragen: Die Wahrheit ist eine Erfindung eines Lügners. Dieses Zitat ist übrigens auch der Titel eines sehr lesenswerten Büchleins des grossen Theoretikers des Konstruktivismus. Nun ist das gar nicht so einfach, diesen ..ismus auf den Punkt zu bringen. Es geht dabei um die Erkenntnistheorie und dieser liegt die Frage zu Grunde, wie wir überhaupt etwas erkennen können. An dieser Frage haben sich die Grössten der Philosophiegeschichte, ganz besonders Platon, Aristoteles, Thomas, Descartes und schliesslich Kant abgearbeitet.
Kant hatte das Projekt vorerst abgeschlossen und bereinigt. Eigentlich gelten wichtige Erkenntnisse des Königsberger Philosophen auch heute noch. Allerdings hat die empirische Psychologie und noch weit mehr die Hirnforschung und Kognitionswissenschaft im 20. Jahrhundert uns wichtige neue Fakten geliefert. Umberto Maturana und der früh verstorbene Francisco J. Varela haben entscheidende Schlüsse daraus für die Erkenntnistheorie formuliert.
Worum geht es dabei? Kant hat aufgezeigt, dass das Erkenntnisvermögen letztlich auf zwei Prinzipien beruht, die ineinander verschränkt sind: der sinnlichen Anschauung, oder einfacher, der Erfahrung, der wir als Sinnenwesen fähig sind und der Verstandeskategorien, diese Erfahrungen überhaupt machen und verorten zu können. Kant nennt das die Kategorien.
Der Sprung zum Konstruktivismus liegt nun darin, dass die Hirnforschung erkannt hat, dass unsere Sinnesorgane, also das Sehen, Hören, Riechen, etc. keine rein rezeptiven Instrumente sind, sondern so mit der Gesamtheit unseres Leibes verbunden, dass sie selbst konstruktiv sind. Es kommen also nicht einfach Lichtstrahlen auf unser Auge, das diese als Reiz verarbeitet und im Hirn dann daraus ein Bild zusammensetzt, sondern die Verkoppelungen sind derart komplex, dass ein Auge eben in einem bestimmten Moment etwas ganz Bestimmtes und nur dieses sehen kann, weil der Organismus im Ganzen bereits darauf gerichtet ist, wahrzunehmen, was er als für seine Existenz in diesem spezifischen Augenblick konstitutiv „erfordert“. Sehr vereinfacht formuliert, heisst das, dass der Organismus permanent die Wirklichkeit für sich selbst konstruiert und mit seiner Umwelt abgleicht. Die mechanistische Erklärung von Reiz und Reaktion würde zu einer höchst rudimentären, wenn nicht sogar grundfalschen Erkenntnistheorie führen.
Ich habe schon 1992 angefangen, mich mit dem Werk von Maurice Merleau-Ponty auseinanderzusetzen, der bereits in den 40er Jahren mit seiner ‚Phänomenologie der Wahrnehmung‘ die (philosophischen) Grundlagen der konstruktivistischen Erkenntnistheorie legte und wenn man nun in ähnlich extremer Verkürzung seinen Ansatz auf den Punkt bringen möchte, könnte man sagen: Die Wahrheit liegt im Leib. Die Verbindung ergibt sich über einen weiteren Theorieansatz, der mein Denken massgeblich beeinflusste, nämlich die Systemtheorie nach Niklas Luhmann. Die Systemtheorie ist eine soziologische Grosstheorie, die unsere Wirklichkeit nicht mehr in den herkömmlichen Begriffen von Mensch, Sprache, Verstand, Macht, Glück, Wahrheit, etc. beschreibt, sondern ein weitgehend neues Vokabular entwickelte, um die Irrtümer und Missverständnisse der Philosophiegeschichte zu überwinden: wiederum extrem verkürzt: Menschen sind Systeme in Systemen. Systeme interagieren mit ihrer Umwelt über Kommunikationen. Systeme sind selbstreferentiell und prinzipiell selbsterhaltend, das heisst: sie wollen bestehen, wachsen und speisen sich zu ihrem Selbsterhalt aus einer Mischung von Rückkoppelung und Informationsverarbeitung von Umweltinformationen.
Was heisst das für die Wahrheit? Wahrheit ist so gesehen eine Funktion der Systemerhaltung, denn wenn das System nicht über eine Differenzierungsmöglichkeit von wahr/falsch verfügt, riskiert es die Vernichtung. Wahrheit ist also in systemtheoretischer Hinsicht eine systemerhaltende Funktion. Womöglich leuchtet Ihnen nun schon der Satz von Foerster etwas mehr ein, denn Systeme brauchen auch die Lüge als Funktion und streng genommen können wir nicht erkennen, was ausserhalb des Systems, in welchem wir selbst sind, als Wahrheit und Lüge identifiziert werden kann (wie ist es, eine Fledermaus zu sein?)
So weit so gut. In einem Blog kann man freilich nicht tiefer gehen, sofern er noch nachvollziehbar sein soll. Mein Denken am Nachhaltigsten beeinflusst haben allerdings nicht die Konstruktivisten und Systemtheoretiker, sondern das Denken des schlecht in Schubladen zu bringenden Georges Bataille und Michel Foucault. Foucaults Wahrheitsbegriff liegt mir womöglich am Nächsten. Er untersuchte die dynamischen Formen, wie sich Wissen und Macht bedingen und umschlingen. In seiner ‚Archäologie des Wissens‘ untersucht Foucault die Strukturen, die das, was wir schliesslich als ‚Wahrheit‘ erkennen, ermöglichen, jenseits des Subjekts, also des einzelnen Menschen, aber auch jenseits bestimmter Begriffe wie Gesellschaft, Herrschaft, Staat, Wissenschaft usw. Foucaults fundamentale Forschung bekommt ihre Wirksamkeit in der Einsicht der Wechselwirkung zwischen Strukturen und Veränderungen. Dadurch, dass sich alles stets verändert, diese Veränderungen aber asynchron sind, können Begriffe ihre Bedeutungen verändern, ohne dass wir uns dessen gewahr werden. Die „archäologische“ Geistesarbeit liegt nun darin, diese Ungleichzeitigkeiten und ihre Wechselwirkungen freizulegen.
Sie sehen: Sie bekommen keine eindeutige Aussage von mir, was nun Wahrheit sei. Aber definitiv halte ich eine Aussage, wonach es DIE Wahrheit gebe, für irreführend. DIE Wahrheit als kantische Kategorie, die aber inhaltlich leer bleibt: in Ordnung. Damit könnte ich – vorläufig – ruhig einschlafen, aber es wäre dennoch eine Art Schlafmittel. Wahrheit ist flüchtig und muss stets neu ermittelt werden. Der Begriff der ‚Ermittlung‘ ist tatsächlich in seiner kriminalistischen Heimat geeignet, zu illustrieren, was Wahrheit „sei“ – letztlich nur das je vorläufige Ergebnis einer Ermittlung, das heisst der Sammlung von Indizien, die die Wahrheit eines Sachverhalts bestätigen oder falsifizieren. Und Sie erinnern sich, dass ich Ihnen den Sachverhalt mit dem lateinischen FAKTUM erläuterte. Faktum ist – grammatisch – das Partizip von facere, also machen, also das Gemachte und das Gemachte ist letztlich immer eine Konstruktion.