Was ist das für ein Wort: Sexualität? Ist es, wo es doch etwas bezeichnet, was uns im Innersten betrifft, in unserer elementaren Lebendigkeit affiziert, ein seltsam spröder Begriff! Hören wir ‚Sexualität‘, denken wir doch sofort an Intimstes und dieses Affiziertwerden passt aber schlecht zu diesem Begriff, der so unscharf ist wie Religion oder Nation. Eigentlich ist das Wort ‚Sexualität‘ überhaupt nicht „sexy“ – wir erkennen unschwer seine Herkunft aus dem klinischen Kontext – es ist ein klinischer Begriff. In der Tat finden wir in der Geschichte der Philosophie auch nicht so viele Titel mit diesem Wort. Erst in den letzten Jahrzehnten schwappte eine Woge an Texten, Kongressen und öffentlichen Debatten vor allem in Amerika über das Bewusstsein der Gegenwart und hält mit der Gender-Thematik das politische Denken besetzt. Mit einer zungenbrechersichen Buchstabenfolge wird heute identitätsgeleitete Politik und Wissenschaftspolitik betrieben – teilweise notwendig, teilweise irreführend. Philosophisch müssen wir hier zuerst einmal etwas Ordnung machen:
Die Geschlechtlichkeit ist keine adäquate Übersetzung des allgemeinen Begriffs der Sexualität, obwohl es die naheliegendste ist. Denn das deutsche Wort ‚Geschlecht‘ ist beiderlei: Identifizierung der wesentlichen und primären Weise unseres Daseins zunächst, sei es als Frau oder als Mann und als solche sind wir – aus-gezeichnet – mit den Geschlechtsteilen – oder als dazwischen Unbestimmtes oder Verfügtes oder im Nachhinein als Differenz zu Verfügtem oder Gegebenem Gewähltes, aber dennoch wesentlich ursprünglich in der problematisierten Differenz zum Geschlechtsteil. Die Behauptung, das Geschlecht sei eine soziale Konstruktion, bleibt dabei zunächst einmal so sehr eine Behauptung, wie die Behauptung der Existenz Gottes. Wir haben keine Möglichkeit, hinter die Gegebenheit des Geschlechts, also hinter die „Konstruktion“ zu denken – immer schon sind wir im Geschlecht und: in zweiter, ebenso ursprünglicher Bedeutung sind wir in der Herkunft auch immer Angehörige eines Geschlechts im Sinne der Herkunfts- oder Stammfamilie, selbst dann, wenn wir adoptiert sind. Die Geschichte der Literatur ist davon reich an Erzählungen. Hier wäre lange weiter zu denken entlang der Etymologien und kulturellen Unterschiede, zum Beispiel zwischen der französischen und der deutschen Sprache und weiter zurück zur lateinischen oder gar griechischen Fassung des Problems. Bemerkenswert immerhin: Es gibt den Mann und es gibt die Frau und das Geschlecht ist – grammatikalisch zumindest – ein Neutrum. (Bei solchen Feststellungen kommt mir Heideggers flapsige Bemerkung in den Sinn, wonach der mit dem Denken beginnende Franzose Deutsch lerne.) Immerhin sehen wir, welche Auswege der unscharfe Begriff bietet: er sammelt Bedeutungen.
Das Begehren ist ein zentraler Aspekt der Sexualität, aber füllt den Begriff nicht aus.
Die Erotik ist etwas anderes als Sexualität, aber die beiden Begriffe hängen zusammen.
Die Lust ist durchaus ein philosophischer Begriff, der auch eine Brücke zwischen Begehren und Erotik bildet. Vielleicht ist der Begriff der Sexualität so erfolgreich, weil alles in ihr enthalten ist: die Geschlechtlichkeit und das Geschlecht, das Begehren, die Erotik, die Lust, die Scham, aber auch der Ekel, die Gewalt, die Grausamkeit, die Macht…
Als einer der wenigen grossen und einer der ersten Philosophen setzte Michel Foucault diesen Begriff in den Titel eines seiner Werke, heute ein Schlüsselwerk zum Verständnis unserer Gegenwart: l’histoire de la sexualité ist eben gerade keine Geschichte der Sexualität im Sinne einer berichtenden Erzählung ihrer Formen und ihrer Praxis, sondern vielmehr, bzw. überhaupt eine Analyse über die Genese eines Begriffs und damit eine Erzählung über die Formen des Wissens und der Macht. Und nun hat dieses Werk selbst seine ungeheure Macht entfaltet. Der Diskurs unserer Moderne ist im Grunde das Ergebnis einer Analyse der Diskurse, doch das Wesen einer Sache verbirgt sich gern, sagte uns schon vor sehr langer Zeit Heraklit, und in der diskursiven Erschliessung selbst – Heraklit reloaded – verbirgt sich das Wesen umso mehr.
Eigentlich habe ich schon verworfen, was ich oben schrieb und wollte neu beginnen. Weshalb ich es doch so stehen lasse: Sexualität ist ein überaus geeignetes Wort, um daran eine Methode zu bewähren, die ich in den letzten Jahren zu entwickeln versuche. Phänomenologisch lässt sich der Begriff schwer erschliessen, auch hermeneutisch entgleitet er dem denkenden Zugriff und etymologisch gibt er viel weniger her, als was er heute alles enthält. Mit einem Verfahren, das ich philosophische Szenografie nenne, käme ich gut voran. Weil der Begriff so angefüllt ist mit Bedeutungen und Kontexten, lässt er sich am ehesten begreifen, wie man ein ganzes Theater begreift. Da gibt es ganz unterschiedliche Perspektiven, die zu je verschiedenen Erzählungen, Analysen, Urteilen, bzw. am Ende Wahrheiten führen. Wir können uns als Zuschauer dem Gegenstand widmen, als Akteure, als Regisseure, als Beleuchter, als Dramaturgen, usw. – und dann ist da immer noch das Drama selbst, die Komödie, kurz das Spiel, das sich uns in verschiedener Weise gibt, und stets neu und anders inszeniert werden kann. Wenn wir Sexualität wie ein Theater verstehen, bringen wir in ihrem Begriff unter, was er enthält und können die verschiednen Gehalte sinnvoll ordnen: die Geschlechter und ihre Ordnung, die Erotik, das Begehren, die Lust und selbst die Liebe.