#Geschmack, (bzw. Geschmacklosigkeit)

„Er hatte schon 1933 eines seiner Bücher, ‚Hitler und George‘ dem Führer und Dichter des Dritten Reiches gewidmet, eine Kombination, für deren Geschmacklosigkeit und Lächerlichkeit nur er selbst kein Gefühl hatte.“ (K. Löwith. Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Ffm. 1989, S. 86)
Für einmal erweise ich einer Geschmacklosigkeit die Ehre mich mit ihr philosophisch auseinanderzusetzen. Wir haben das Bild mit dem wurmstichigen Apfel gesehen, mit dem eine sogenannte „Volks“-Partei für sich wirbt, indem sie die Würmer als die politischen Gegner und den Apfel als die Nation, die zum Opfer des Ungeziefers wurde, darstellt. Wir konnten inzwischen einiges darüber vernehmen. Mich veranlasst diese weit herum als „Geschmacklosigkeit“ bezeichnete Allüre darüber nachzudenken, was denn Geschmack eigentlich bedeutet, denn ich stelle bei mir fest, dass das Geschmacksurteil sehr nahe beim alles dominierenden Vorurteil liegt. Ich beurteile fast alles nach ästhetischen Kriterien, wobei eben der Geschmack so etwas wie den ersten Eindruck ausmacht. Ich gebe ein Beispiel: Gelegentlich schauen wir uns die Sendung „Das perfekte Dinner“ an. Für diejenigen, die diese Sendung nicht kennen: fünf zufällig aus Bewerbern ausgewählte Hobbyköche bekochen sich an fünf aufeinanderfolgenden Tagen in ihren Wohnungen und bewerten sich gegenseitig. Das Interssante an dieser Sendung ist ja nicht des Essen, denn das können wir als Zuschauer nicht beurteilen. Das Interessante sind die Milieus, in die wir Einblick erhalten, die Wohnungen, die Einrichtung, das Verhalten der Hobbyköche, die Art, wie sie sich gegenseitig beurteilen und schliesslich die Selbsteinschätzung, die ich als Betrachter dieser Sendung im Verhältnis zu den Kandidaten treffe. Um es gleich vorweg zu nehmen: die Sympathie koppelt sich unmittelbar an meine Geschmacksempfindung der vorgeführten Wohnungen. Dazu gehört das Gebäude von aussen, die Inneneinrichtung und schliesslich der Aussenbereich. Worauf achte ich?
Sind Bücher vorhanden?
Was für Bilder hängen an den Wänden? Gibt es überhaupt Bilder?
Wie ist die Person eingerichtet? (Möbel, Objekte, Details)
Die Kleidung ist ebenfalls ein Aspekt, allerdings ein nachgeordneter. Im Verlauf der fünf Abende, an denen die Sendung zu einem Team ausgestrahlt wird, bekommt man einen erstaunlich guten Eindruck vom Charakter der Teilnehmenden. Und man fällt ein gnadenloses Geschmacksurteil.
Das nun ist in doppelter Hinsicht interessant, denn Geschmack hat eine doppelte Bedeutung: er bezeichnet erstens einen Sinn der Wahrnehmung, der im Mund erfolgt und er bedeutet zweitens ein allgemeines ästhetisches und moralisches Werturteil. Wenn wir uns also diese Sendung ansehen, wo es ja eigentlich um den Geschmackssinn geht: ist das Essen gut? Schmeckt es? – wir aber als Zuschauer davon nichts mitbekommen können, werden wir ganz automatisch auf das Werturteil verwiesen, das die Teilnehmenden ästhetisch-moralisch bewertet.
Damit sind wir wieder beim wurmstichigen Apfel, der uns über ein Bild auf den Geschmackssinn verweist, denn würden wir in einen wurmstichigen Apfel beissen (also unsere Nation aufessen), meldet sich der Geschmackssinn mit Ekel als Ungeniessbarkeit dessen, was wir zu essen beabsichtigen. Allerdings ist es so, dass wir, sofern wir sehen können, den Apfel zuerst visuell begutachten, bevor wir in ihn beissen. Tatsächlich – und auch das vermittelt uns die Sendung „Das perfekte Dinner“ – hängt der Geschmackssinn mit dem Sehsinn zusammen. Wir beurteilen Essbares zunächst optisch, also ästhetisch.
Heute gilt der Geschmack als ein subjektives Werturteil. Allerdings hatte das aus scholastischer Tradition entstandene Sprichwort in gängiger Überlieferung ‚de gustibus non est disputandum‘ (Über den Geschmack lässt sich nicht streiten) im 17. Jahrhundert, als in Frankreich ‚le goût‘ zu einem Thema der Gesellschaft wurde, gerade keine relative, subjektivistische Bedeutung, sondern im Gegenteil galt der ‚bon goût‘ als Eintrittsticket zur Elite. Der spanische Philosoph Baltasar Gracian (1601 – 1658) bestimmte den ‚buen gusto‘ als „das durch Erfahrung und unablässige Introspektion zur Vollkommenheit gebrachte Vermögen eines Menschen (hombre en su punto), der in allen Bereichen und Situationen des Lebens immer die richtige Wahl zu treffen und alle Dinge frei von Täuschung nach ihrem wirklichen Wert zu beurteilen vermag.“ (Vgl. Hist. Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, G-H, Art. Geschmack, S. 443ff.)
Die Relativierung als subjektives Urteil haben wir Kant zu verdanken. Diese Relativierung wurde bis heute nicht wirklich aufgehoben, obwohl Hans-Georg Gadamer die Kantische Subjektivierung des Geschmacks nachvollziehbar kritisiert. (Vgl. H.-G. Gadamer. Wahrheit und Methode, Tübingen, 1960/1990, S. 40ff.) Gadamer identifiziert den Geschmack durchaus in der doppelten Bedeutung als einen Sinn (Leser meiner Blogs mögen sich daran erinnern, dass ich weiter unten den Sinn des Lebens als einen eigentlichen Sinn behaupte, den Lebenssinn, der uns den Gesamtzusammenhang aller unserer sinnlichen Wahrnehmungen stiftet). Daraus folgt, dass „Sicherheit des Geschmacks (…) also Sicherheit vor dem Geschmacklosen“ (ebd. S.42) sei.
Das Problem mit dem wurmstichigen Apfel stellt sich nun wie folgt: zweifelsohne findet eine grosse Zahl an gebildeten Zeitgenossen das Apfel-Sujet der „Volks“-Partei als geschmacklos. Aber es muss ja auch eine grosse Zahl geben, die sich von dieser Geschmacklosigkeit angesprochen fühlt, wobei dieses Ansprechen auf einer tieferen symbolischen Ebene erfolgt. Das heisst: was mit diesem Bild ausgedrückt wird, beschreibt die politische Einstellung der damit Angesprochenen. Was also für eine vermeintliche Mehrheit eine Geschmacklosigkeit ist, stellt für eine ebenso vermeintliche Minderheit in unserer Gesellschaft eine politische Wirklichkeit dar. In diesem Sachverhalt liegt eine Unüberwindbarkeit, denn „guter Geschmack ist eine Empfindlichkeit, die alles Auffällige so naturhaft meidet, dass seine Reaktion dem, der keinen Geschmack hat, schlechthin unverständlich ist.“ (Ebd.) Wer also das Bild mit dem wurmstichigen Apfel als geschmacklos empfindet, kann sich kaum in jemanden versetzen, der sich davon – politisch – angesprochen fühlt, weil er darin eine politische Wirklichkeit symbolisiert sieht.
Aber wie sieht es von der anderen Seite aus? Stelle ich mir vor, ich könnte der symbolischen Bedeutung des Apfels eine wahrgenommene Wirklichkeit zuordnen, wäre dann das Bild an sich deswegen geschmackvoll? Wohl kaum! Ich behaupte, und hier bietet sich eine Brücke über das Unüberwindbare zwischen Geschmack und Geschmacklosigkeit, dass man Geschmack erkennt, auch wenn man ihn nicht hat. Das zeigt sich im Kitsch. Derjenige, der keinen Geschmack hat, aber Geschmack erkennt, richtet sich im Kitsch ein. Kitsch ist – im Gegensatz zum Geschmack – Ausdruck einer als Wahrheit vorgestellte Verlogenheit, während das Geschmacksurteil als ästhetisches Urteil sich der Wahrheit zu nähern trachtet. Deshalb ist echter Geschmack immer auch seiner selbst etwas unsicher. (Womit ich Gadamer in diesem Punkte widerspreche.) Guter Geschmack ist suchend. Der Kitsch gibt sich eine Sicherheit und versucht etwas zu sein, was er nicht ist. Womit wir bei einem Grundproblem unserer Gesellschaft angelangt sind. Durch das gnadenlose, mediale Sperrfeuer der Moden werden wir ständig mit den abscheulichsten Geschmacksverirrungen konfrontiert, die sich als Geschmack ausgeben, heute nennt man das Trends. Wer unsicher ist, aber diese Unsicherheit fliehen möchte, orientiert sich an den Trends und stellt damit unmittelbar etwas vor, was er oder sie nicht ist. Diese Trends haben längst den Bereich der Kleidung, der Frisuren, der Düfte, der Architekturen und schliesslich der Kunst hinter sich gelassen wie verbrannte Erde und sind ins Politische und sogar in die Wissenschaft und die Spiritualität vorgedrungen. Ich behaupte, dass der Terrorismus vielmehr ein Problem des Geschmacks, bzw. der Geschmacklosigkeit ist, als ein politisches Problem. Die Medien sind so sehr abhängig geworden von Trends, von Events, von noch stärkeren Reizen, dass sie mit ihrer „Berichterstattung“ die geschmacklose Inszenierung des Terrorismus geradezu beflügeln. Dieser Ungeist ist schon seit einiger Zeit auch in den Regierungen angekommen. Einige politische Führer glänzen mit einer geradezu terroristisch anmutenden Geschmacklosigkeit und mobilisieren damit den Kitsch und die Dummheit des Massen. Diese Art von Geschmacklosigkeit liegt dem Kalkül des Bildes vom wurmstichigen Apfel zugrunde. Es ist eine Art von Geschmacksterror, der von der „Volks“-Partei ausgeübt wird. Wem dieser Begriff nicht passt, weil er Schreckliches mit Ästhetischem vermischt, taugt der Begriff des Kitschs. Die Verlogenheit der Aussage tarnt sich als eine Darstellung von Wirklichkeit. Wir nennen das politischen Kitsch. Die Wähler der „Volks“-Partei, die sich vom wurmstichigen Apfel in ihrer Weltsicht bestätigt fühlen, wissen um diese Verlogenheit, aber es ist angenehmer, sich in einer Verlogenheit sicher zu fühlen, als sich unsicher auf die Suche nach Wahrheit zu machen.
Soziologisch betrachtet, ist Geschmack ein Kriterium der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Das lässt sich gut in Schulhäuserin augenfällig nachweisen. Weil es ein Zugehörigkeitskriterium ist, ist es umgekehrt auch ein Ausschlusskriterium. Kant lag falsch, Geschmack als subjektiv zu definieren. Die vorurteilshafte Wahrnehmung, die dem Geschmack zugrunde liegt, ist ein kommunikatives Phänomen, das sich durch komplexe Interaktionen von Erziehung, Sozialisation, Bildung und medialer Manipulation ergibt. In der Bildungsfrage hat leider die Erziehung zu und Bildung von Geschmack heute keinen Stellenwert mehr. Gilt es, unser Land vor weiterer Zerstörung durch hässliche Bauten, übermässigen Verkehr und politischen Kitsch zu bewahren, ist Geschmacksbildung unerlässlich. Geschmack, mithin Schönheit und Wahrheit sind auch ein politisches Problem.

Autor: Patrik Schedler

Philosoph, Kurator, Lehrer

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