Rückkehr nach Prag

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Constantin, drei Jahre

Über die Feiertage habe das Buch von Didier Eribon, ‚Rückkehr nach Reims‘ (2009, dt. 2016) gelesen, das ein Erinnerungsbuch ist, worin er seine philosophische Autobiografie mit einem Besuch bei seiner Mutter nach dem Tode des Vaters verbindet. Das stellt gewissermassen eine Verbindung zu meinem Projekt her, das ich hier verfolge. Da gibt es im Epilog eine längere Stelle, die ich zitieren möchte. Der Kontext ist seine Erörterung der sozialen Konstruktion von Gedächtnis.
„Der Blick zurück geht von der gegenwärtigen Politik aus. Sie ist entscheidend dafür, wie man über die Mechanismen der Herrschaft und Unterwerfung, aber auch über die Reformierungen des Selbst nachdenkt, die aus einem Widerstand entstanden sind, der sich über sich selbst bewusst sein kann oder aber bloss in einer Alltagspraxis gelebt wird. Es sind diese politischen Rahmungen der jeweiligen Gegenwart, die zu einem grossen Teil darüber bestimmen, welches Kind man gewesen ist und welche Kindheit man erlebt hat.
Wenn aber das individuelle Gedächtnis vom kollektiven Gedächtnis der Gruppe bedingt ist, der man angehört oder mit der man sich identifiziert und zu deren Bestehen man dadurch beiträgt, dann muss man umgekehrt auch beachten (…), dass ein Individuum immer mehreren Gruppen angehört, sei es gleichzeitig oder nacheinander. Manchmal überschneiden sich diese Gruppen, sie entwickeln sich und sind permanent in Bewegung. Deshalb ist das „kollektive Gedächtnis“ – und mit ihm die individuellen Gedächtnisse und Vergangenheiten – nicht nur plural verfasst, sondern historisch auch veränderlich.“ (Didier Eribon. Rückkehr nach Reims. 2016. eBook – Epilog/2)
Diese Stelle hat einige Gedanken hervorgeholt. Bei einem meiner Besuche bei Constantin anfangs Dezember – oder war es schon Ende November? – die Tage zu Ende Jahr verklumpen bereits in meiner Erinnerung durch ihr schicksalsschweres Gewicht – konfrontierte mich die Leiterin der Abteilung im Altersheim, wo Constantin lebt, mit ihrem dringenden Anliegen, ihn in eine spezielle Alzheimer-Klink zu verlegen. Sie haben ihn bereits auf die Warteliste setzen lassen. Für das Altersheim ist das eine technische Angelegenheit und insofern nachvollziehbar, als dass sie über zu wenig Personal verfügen, um den Bedürfnissen von Bewohnern mit Alzheimer gerecht zu werden. Das Hauptargument ist die Sicherheit, denn offenbar ist Constantin zwei oder dreimal verschwunden und sie mussten ihn suchen. Einmal ist er dabei gestürzt und hat sich den Kopf angeschlagen. Sie befürchten, dass wenn es ihm gelänge, auch weiterhin zu verschwinden, er womöglich hinaus in Kälte geraten könnte, was natürlich im Winter lebensgefährlich ist.
Das Gedächtnis ist womöglich nicht einfach das, was in unserem Hirn gespeichert ist, sondern es ist vielmehr eine aktive Interaktion mit unserer Umwelt. Alte Menschen aus ihrer Umgebung herauszureissen, um sie in ein Wohnheim zu stecken, wo sie mit anderen alten Menschen zusammenleben, die ebenso aus ihrer Umgebung herausgerissen wurden, ist in jeder Hinsicht, aber im Besonderen hinsichtlich des Gedächtnisses ein völliger Unfug und wenn man bedenkt, dass man im Alter ganz wesentlich das ist, was man durch die Zeit wurde, ist das Gedächtnis mitunter eine zentrale Qualität. Ich habe ganz zu Beginn in einem meiner ersten Blogbeiträge das Zimmer beschrieben, wo Constantin jetzt wohnt. Es sind ein paar wenige Bilder, vier Möbelstücke und vielleicht drei oder vier Erinnerungsobjekte, die er dahin mitnehmen konnte. Seit einiger Zeit beobachte ich bei meinen Besuchen, dass die drei Fotoalben aus seiner Kindheit und Jugend, die er mitgenommen hatte, immer wieder an anderen Orten liegen, das heisst, dass er sie anschaut. Wenn ich eines der Alben aufschlage und ihn nach einer Fotografie frage, stelle ich fest, dass er sich durchaus „erinnert“, auch wenn es ihm nicht gelingt, diese Erinnerung sprachlich kohärent auszudrücken. Im Alter verkleinert sich der Radius. Das kann man bei Haustieren gleichermassen beobachten. Meine Katze Josephine (sie starb 19jährig 2013) reduzierte ihre Spaziergänge und die Aufenthaltsorte immer mehr. Die letzten Wochen beschränkte sie sich auf die Küche, die Stube und die Terrasse vor der Stube. Stellt man sich nun vor, dass ein solches Wesen, Katze oder Mensch, aus jener Mitte, die den kleiner werdenden Radius bestimmt, herausnimmt und es woanders hin verpflanzt, dann sind sämtliche Bezüge aufgelöst, zerstört, die Verbindungen sinnlos. Constantins Alzheimer ist eigentlich erst im Altersheim akut geworden. Der Kreisel dreht nicht mehr um ein Zentrum. Wenn er heute spricht, ergibt kein einziger Satz mehr einen Sinn. Durch die Versetzung aus der selbst geschaffenen Umgebung in eine sterile Wohnmaschine, haben sich die meisten räumlichen Bezüge, die Verbindungen zu Gruppen, also zu einem kollektiven Gedächtnis haben herstellen können, aufgelöst.
Ich möchte jetzt den Anfang des Zitats aus Eribons Buch als Anlass nehmen, Constantins Erinnerungen an seine Kindheit, so wie er sie mir mitgeteilt hat, zu rekonstruieren. Dabei kann ich mich auf meine Notizen beziehen, leider aber kaum mehr auf Objekte aus seiner Wohnung, Erinnerungsstücke, die er beim Erzählen zeigte, oder Hinweise darauf gab, weil diese „Erinnerungslandschaft“ verloren ist.
„Es sind diese politischen Rahmungen der jeweiligen Gegenwart, die zu einem grossen Teil darüber bestimmen, welches Kind man gewesen ist und welche Kindheit man erlebt hat.“ Die politische Rahmung, in die hinein Constantin geboren wurde, ist das Ende der 20er Jahre. 1929 – das ist das Jahr mit diesem wunderbaren Sommer, den Stephen Spender in seiner frühen Novelle „The Temple“ beschrieben hat, als sein Alter Ego, der junge Oxford-Student Paul nach Deutschland gelangt und hingerissen ist von der Schönheit und Lebendigkeit der jungen Deutschen, vom Hedonismus und der Weltoffenheit dieses wunderbaren Landes… – Der Umschlag der erst fünfzig Jahre nach seiner Niederschrift veröffentlichten Erzählung ziert eine Fotografie von Herbert List, dem grossen Fotografen jener Zeit und diese Fotografie zeigt einen Jüngling, der bis zu den Knien im Wasser eines Flusses, wahrscheinlich des Rheins steht. Ihm, W. H. Auden und Christopher Isherwood wurde dieses Buch gewidmet, drei grosse Figuren, die für eine intellektuelle Biografie eines schwulen Mannes im 20. Jahrhundert zentral sind. Ihre Bücher packte ich in Kisten, als ich Constantins Wohnung vor drei Jahren auflösen musste. Irgendwann wird jemand anders meine Bibliothek auflösen und diese Titel ebenfalls in eine Kiste packen. Ob derjenige, der das tun muss, einst auch jedesmal in diese Bücher hineinblättert, um sich an die eigene Lektüre zurückzuerinnern?
Constantin ist anderthalb oder zwei Jahre alt, als die junge Familie Paris wieder verlässt und nach Prag zurückkehrt. Die Gründe sind unklar, aber die „politische Rahmung“ lässt erkennen, dass der Vater womöglich nicht jenen Anschluss in Paris fand, den er suchte. Er war ein „Weisser“. Vielleicht war ihm das russische Flüchtlingsmilieu in Paris zu wenig „weiss“, also zu wenig radikal antikommunistisch. Aber dann war da die Familie der Mutter in Prag. Sie hatte zwei Schwestern, auch die Eltern lebten noch. Die Mutter suchte für ihr Kind einen sicheren Hafen und realisierte irgendwann, dass ihr Mann, der perfekt Hochdeutsch sprach, möglicherweise seine schweizerische Abstammung aktivieren konnte. 1934 oder 1935 gelangen die Familie Zuppiger, Vater, Mutter und Constantin in Zürich an. Das Bürgerrecht wird anerkannt. Sie können bleiben und der Vater findet sehr schnell eine Stellung bei der Niederlassung des deutschen Chemieunternehmens AGFA. Constantin erzählte mir, dass ein erstes Foto ihn mit einer Holzeisenbahn und Puppen zeigt. Ich habe es noch nicht entdeckt, aber ich habe drei andere Bilder gefunden, die ihn im Alter von etwa zwei bis drei Jahren abbilden.

Autor: Patrik Schedler

Philosoph, Kurator, Lehrer

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