Überwachungskapitalismus

Ich habe Ihnen als einen produktiven Beitrag zum Philosophieunterricht einen wöchentlichen Blog versprochen. Letzte Woche gab ich Ihnen die ersten Seiten des Manifests der kommunistischen Partei von Marx und Engels als Lesebeispiel wirkmächtiger Texte der Philosophiegeschichte. Heute lese ich in der ‚Republik‘ (das ist diese neue, unabhängige online-Zeitung, die ohne Werbung funktioniert und den Lesern gehört) einen Artikel von Daniel Binswanger über das Buch von Shoshana Zuboff
‚Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus‘. Zuboff ist eine emeritierte Harward-Ökonomie-Professorin und das Buch hat weitherum grosses Aufsehen erregt. Ich habe es mir gleich nach der Lektüre des Artikels bestellt und den Artikel finden Sie hier ([https://www.republik.ch/2019/02/09/ueberwachungs-kapitalismus]).
Der Begriff des Kapitalismus entstand schon einige Zeit vor Marx und Engels und in Marx’ Hauptwerk ‚Das Kapital‘ kommt der Begriff offenbar nur ein einziges Mal vor. Durch die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise von Marx (hauptsächlich in seinem unvollendeten Werk ‚Das Kapital‘) entsteht aber eine ideologische Differenz im politisch-gesellschaftlichen Diskurs, weil diese ökonomische Analyse die Gründe für die Verelendung der Massen, der Kinderarbeit und der allgemeinen Unterdrückung in der Wirkungsweise des bei wenigen Kapitalisten konzentrierten Kapitals lokalisiert. Er identifiziert den fortwährenden Klassenkampf, nämlich der Benachteiligten gegen die Herrschenden als Motor der Weltgeschichte. Aus Marx’ Analyse wurde durch die durch sie ausgelöste politische Bewegung (Kommunismus, Sozialismus) – und auch mit Marx’ Mithilfe – eine Ideologie. Im modernen Gebrauch des Begriffs ‚Ideologie‘ bedeutet er, dass eine bestimmte philosophische (mithin wissenschaftliche) Sicht politisch usurpiert (also vereinnahmt) wird, um damit Legitimität und Macht zu beanspruchen. (Ursprünglich bedeutete der Begriff der Ideologie lediglich die Wissenschaft der Ideen in der Tradition Platons.)
Obwohl sich der Begriff ‚Kapital‘ und ‚Kapitalismus‘ in den westeuropäischen philosophischen Schulwörterbücher des mittleren 20. Jahrhunderts nicht finden lassen (man befand sich im kalten Krieg!), sind heute Marx’ ökonomische Forschungen zwar nicht unumstritten, aber nichtsdestotrotz eine wichtige Voraussetzung der ökonomischen Begrifflichkeit.
Die herausragende Leistung von Marx war die Analyse des Zusammenhangs politischer Machtverhältnisse und der Ökonomie. Heute ist uns das ganz selbstverständlich, dass Geld und Macht unmittelbar zusammenhängen und die Politik und die Ökonomie aufs Engste verknüpft sind. Genau so wenig, wie vor Sigmund Freud kaum jemand daran dachte, dass wir zu einem weit grösseren Teil von unbewussten Kräften (vor allem dem Sexualtrieb) gesteuert werden, dachte kaum jemand vor Marx daran, dass die Politik unmittelbar die Folge ökonomischer Interessen und Wirkungen ist.
Interessant dabei ist, dass aber jedes Mal, wenn ein Wissenschaftler diese Verhältnisse genauer unter die Lupe nimmt, es eine heftige Debatte gibt. Vor wenigen Jahren erschien die umfangreiche makroökonomische Untersuchung ‚Das Kapital im 21. Jahrhundert‘ des französischen Ökonomen Thomas Piketty. Das Buch war noch nicht einmal ins Englische und Deutsche übersetzt, als ihm bereits vorgeworfen wurde, es sei fehlerhaft und einseitig (ich bin diesen Vorwürfen nachgegangen und habe festgestellt, dass es sich dabei um einige Datensätze handelt, die etwas grosszügig interpretiert wurden, aber kein einziger Vorwurf ist substantiell, trotzdem hat zum Beispiel die NZZ sich auf die Seite der Kritiker geschlagen.)
Ich bin sehr gespannt, was Zuboffs Buch auslöst. Meine Wette lautet: es wird sehr viel differenzierter aufgenommen. Es gibt wirtschaftliche und politische Kräfte, die die Vormachtstellung der IT-Konzerne brechen wollen, nicht zuletzt, um sich selbst in deren Position zu begeben. Das konnte man in Russland und China beobachten, wo die IT-Branche schon sehr früh vom Staat und besonders von den Geheimdiensten kontrolliert wurde. Meine Position in dieser Debatte: Demokratisierung der Digitalmächte über das Genossenschaftsmodell – also die Betriebe ins Eigentum der Nutzer überführen und sie öffentlich kontrollieren lassen!

Autor: Patrik Schedler

Philosoph, Kurator, Lehrer

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