Wie liest man philosophische Texte?

Letzte Woche versuchte ich Ihnen – zum zweiten Mal – etwas über die Technik der Lektüre philosophischer Texte zu vermitteln und es scheint mir, als wäre ich damit ein zweites Mal nicht zu Ihnen durchgedrungen. Deswegen versuche ich jetzt darüber etwas nachzudenken und meine Gedanken für Sie festzuhalten.
Da ist zunächst die ganz einfache Methode: SQ3R!
S – Surview: sich einen Überblick über den Text verschaffen, z.B. die Abschnitte nummerieren; Untertitel lesen u.ä.
Q – Questions: Habe ich eine Frage an den Text? Habe ich überhaupt eine Frage? Warum lese ich das? Was erwarte ich herauszufinden? usw.
R – Read. Genau lesen. Das heisst, Satz für Satz. Wichtiges Markieren. Unbekannte Begriffe nachschlagen.
R – Recite. Immer wieder inne halten, sich selbst befragen: habe ich verstanden? Wie habe ich das Gelesene verstanden? Was habe ich bisher gelesen? Vielleicht Notizen machen.
R – Review. Den gelesenen Text rekapitulieren, zusammenfassen, in eigenen Worten reformulieren.

Soviel zur Technik. Ich arbeite immer mit einem dünnen Bleistift und einem kurzen Lineal; seit einige Jahren verwende ich auch kupferne Bookdarts. Das sind ganz dünne Klammern, um eine Stelle im Buch so zu markieren, dass man sie wieder findet. Früher nahm ich PostIt-Zettelchen, aber der Leim greift über die Jahre die Seiten an.

Ich finde es immer noch sehr anstrengend, philosophische Texte zu lesen. Das ist Arbeit; es hat etwas von Fitness-Training. Versucht man ohne Training irgendwelche Hanteln zu stemmen oder man klemmt sich in so eine Maschine ein,… – das ist ja nur furchtbar. Philosophisches zu lesen wird erst mit regelmässigen, gewissermassen täglichem Training erträglich, irgendwann sogar unerlässlich (man fühlt sich nicht gut, wenn man nicht liest) und klar: wenn Sie wirklich regelmässig trainieren, dann irgendwann wird das Lesen zu etwas Erfüllendem, etwas Erleuchtenden, etwas, das Ihr Leben wertvoller, tiefer, sinnvoller macht.

Ich habe mich während des Studiums und immer wieder, phasenweise, mit den Arbeiten von Michel Foucault auseinandergesetzt. Ein Lieblingszitat aus einem Interview lautet sinngemäss: „Arbeiten heisst, etwas anderes zu denken, als was man vorher gedacht hat.“ Und jetzt setzt gleich diese Neugierde ein: wo stand das? Wie lautet das Zitat genau? Also suche ich. (…) Auf die Schnelle finde ich es nur in einem meiner eigenen Texte, die vor sehr vielen Jahren schrieb, aber immerhin!
Sie waren letzte Woche absorbiert von einem bevorstehenden Geometrie-Test. Folglich war Ihre ganze Aufmerksamkeit darauf gerichtet, so zu tun, als würden Sie mir folgen, während Sie gleichzeitig versuchten, sich noch die letzten Formeln einzuprägen.
Ich versuchte Ihnen dagegen den Begriff des Verstehens begreiflich zu machen, indem ich im Raum woanders hingestanden bin. Ich habe mich hinter Sie gestellt und dann festgestellt, dass ich augenblicklich verstanden habe, dass ich mit meiner Rede von der Hermeneutik, von der Phänomenologie, oder gar von der sokratischen Maieutik nichts bewirke, weil Ihre Aufmerksamkeit der Geometrie gewidmet war. Deswegen liess ich Sie.
Aber natürlich fordere ich von Ihnen dieses Verständnis, diese Aufmerksamkeit zurück, indem ich Sie auffordere, sich in Ihrem Tun, in Ihrer Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge zu hinterfragen. Ronja – wenn ich mich recht erinnere – hat gesagt, dass also nur, wer Zeit habe, auch in der Philosophie voran komme. Ja. Das ist so. Sie müssen für Ihre Projektplanung ein Zeit- und Aufmerksamkeitsbudget aufstellen. Dabei ist die reine Dauer relativ. Entscheidend ist die Intensität, die Sie fürs Denken zustande bringen. Was wollen Sie herausfinden? Was beschäftigt Sie wirklich? Folgen Sie dieser Spur! Nur wenn Sie Fragen haben, philosophische Fragen, können Sie philosophische Texte lesen. Sonst lesen Sie nur Buchstaben und Wörter und Sätze ohne Sinn und Bedeutung. Zeitverschwendung.
Ich verrate Ihnen, was meine Fragen sind.
Ich habe noch immer nicht verstanden, wie Lernen funktioniert. Darüber forsche ich. Daran schreibe ich im Moment auch. Bis Ende Jahr möchte ich ein neuartiges „Buch“ schreiben, einen Hypertext, keinen rein linearen Text auf Buchseiten, sondern ein System aus Texten, die durch Hyperlinks aufeinander verweisen. Der Arbeitstitel dieses „Buches“ heisst: „DIDKAKTIK – Lernen und Lehren in philosophischer Hinsicht“.
Das Verhältnis zu den Dingen interessiert mich. Eines meiner grossen Projekte ist eine „Geschichte meiner Dinge“ zu schreiben, wie sie mich beherrschen, wie ich sie sehe, was sie bedeuten und wie das mit der Be-deutung der Dinge geht.
Es gibt noch einige weitere Projekte, aber davon ein ander Mal…

Autor: Patrik Schedler

Philosoph, Kurator, Lehrer

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