# Vom Sinn des Lebens

Jedes Jahr führen wir an der Berufsschule vor den Sommerferien Projekttage durch. Die Themen werden von den Schülern durch ein Auswahlverfahren gewählt. Das Thema dieses Jahres ist: der Sinn des Lebens. Ich selbst kann dieses Jahr nicht teilnehmen, deswegen melde ich mich schriftlich, denn ich halte es für angebracht, mich dazu als Lehrer und darüber hinaus als Philosoph zu äussern, zumal ich selbst mich in einer Lebenslage befinde, wo die Frage nach dem Sinn des Lebens sich in den Vordergrund rückt. Bevor ich auf das eigentliche Thema eingehe, also den Sinn des Lebens, gehe ich auf meine Motivation ein, mich zu äussern. Das sind drei Aspekte: 1. Ich bin Lehrer. 2. Ich bin Philosoph. 3. Eine schwere Krankheit warf mich aus dem beruflichen Alltag und konfrontiert mich mit der Wahrscheinlichkeit eines nahen Todes.
1. Was ist eigentlich ein Lehrer? Wir kennen alle unsere Lehrer, denen wir ausgeliefert waren. Was haben sie mit uns getan? Sie haben versucht, uns Dinge beizubringen, die wir im „wirklichen“ Leben, also dem Leben jenseits der Schule, gebrauchen können. Das ist ihnen im Hinblick auf das Lesen, das Schreiben und das Rechnen gut bis mässig gelungen. Vielleicht hatten wir das Glück, von einigen unserer Lehrer inspiriert worden zu sein. Vielleicht hatten wir das Pech, dass wir von ihnen gequält, deklassiert, missbilligt wurden. Vielleicht haben sie unser Selbstbewusstsein gestärkt, vielleicht haben sie es geschwächt oder gar zerstört. Das können Lehrer. Sie sind wichtige Figuren in unserer Lebensgeschichte. Sie prägen uns. Sie prägen unsere Wahrnehmung der Gesellschaft, der Herrschaftsordnungen, der Bewertungen und sie geben uns im Positiven wie im Negativen Maßstäbe dafür, was wichtig und was nicht wichtig ist und das tun sie in jedem Fall, selbst dann, wenn sie als Lehrer versagen. Die grösste Wirkung der Lehrer auf uns ist das Mass ihrer Anerkennung. Dieses Mass der Anerkennung erfahren wir gemeinhin als Bewertung durch die Noten, die sie uns geben. Dahinter liegt aber noch viel mehr. Selbst einem Schüler, der immer nur gute Noten schreibt, kann die menschliche Anerkennung durch den Lehrer verwehrt bleiben. Er wird darunter ein Leben lang leiden. Umgekehrt kann ein Schüler, der schlechte Noten hat, trotzdem vom Lehrer anerkannt und gefördert werden. Dieser Schüler wird feststellen, dass Noten zweitrangig sind, dass sie kaum eine Bedeutung haben im Leben. Das Entscheidende ist die Anerkennung. Der Lehrer ist derjenige Mensch in unserer Biografie, der nach unseren Eltern, die uns die primäre Anerkennung zollen und von denen wir die Liebe lernen (oder nicht lernen), uns die Anerkennung der Gesellschaft gibt. Durch den Lehrer werden wir in das gesellschaftliche System aufgenommen und von ihm anerkannt. Verweigert uns der Lehrer die Anerkennung, bedeutet das, dass – im Prinzip – uns die Gesellschaft die Anerkennung verwehrt. Wir werden nach der Schule um diese Anerkennung weit mehr kämpfen müssen, als jene, die die Anerkennung in der Schule erhalten haben. In dieser Funktion, die ein Lehrer hat, ist er ein entscheidender Faktor in der Frage nach dem Sinn des Lebens. Ein grosser deutscher Philosoph des 19. Jahrhunderts, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, erkannte, dass die Anerkennung die Grundlage ist für das Funktionieren einer Gesellschaft und weil der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist, ein zoon politikon, ein politisches Tier, ein auf die Gemeinschaft ausgerichtetes Wesen, wie das ein antiker Philosoph, der grosse Aristoteles im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung formulierte, ist die Anerkennung das Scharnier zwischen unserer nackten Existenz als Mensch und dem Sinn, den wir dieser Existenz zu geben vermögen. Nun bin selbst Lehrer und diese Profession erachte ich als zutiefst sinnvoll. Wir neigen dazu, die Dinge, die wir tun, nach dem Sinn zu befragen und daraus auch den Sinn für alles abzuleiten. Nun, was ist sinnvolles Tun? Sinnvolles Tun ist: Erzeugen, aufziehen, pflegen, heilen, bilden, gestalten, retten, lernen, lachen, lieben, geniessen.
2. Was ist ein Philosoph? Das werde ich gelegentlich gefragt. Ein Philosoph – so sagt das aus dem Altgriechischen philia und sophia zusammengesetzte Wort – ist ein Liebhaber, ein Freund der Weisheit. Die Philosophie ist aber auch die erste Wissenschaft, denn sie untersucht die Wahrheit und damit die ersten Dinge überhaupt. Dazu gehört auch die Frage nach dem Sinn des Lebens. Darüber habe ich eine Menge nachgedacht und kann mich dazu äussern.
3. Wird die eigene Existenz bedroht, sei es durch einen schweren Verlust, durch eine Niederlage, durch eine Krankheit, stellt sich die Sinnfrage drängender als sonst.

Es gibt eine ganze Reihe von vorläufigen Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, z.B. die religiöse Antwort, die heisst: Diene Gott und führe ein gottgefälliges Leben!
Oder die Antworten aus Monthy Pythons Film „The Meaning of Life“ : das Wunder der Geburt, Wachsen und Lernen, Gegeneinander Kämpfen, Fressen, und am Ende der Tod. Oder aus dem Buch „The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“ – dort lautet die über Millionen Jahre von einem Supercomputer berechnete Antwort auf die Frage „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“: 42.
Alle Antworten sind einigermassen absurd. Aber: jedem das Seine. Wer möchte, bediene sich: Gott, Tod oder 42 – alles gleich gut. Oder nicht?
Bevor wir die Frage selbst untersuchen, sollten wir uns vergegenwärtigen, was denn eigentlich mit dem Sinn einerseits und dem Leben andrerseits gemeint ist. Etwas fällt auf! Im Deutschen, Französischen und im Englischen bezeichnet das Wort Sinn, sens, sense zweierlei: einerseits sind damit die Wahrnehmungsfunktionen gemeint: Sehsinn, Gehör, Tastsinn, usw.; andrerseits ist Sinn auch der positive Gehalt einer Sache, eines Zusammenhangs oder eine Abfolge; dabei ist der Sinn einer Sache zu unterscheiden vom Zweck einer Sache. Der Zweck einer Sache liegt in ihr selbst, wie zum Beispiel das Hämmern der Zweck der Sache ‚Hammer‘ ist. Im Gegensatz dazu geben wir einer Sache den Sinn. Wenn wir vom Sinn einer Sache sprechen, erzeugen wir eine Identifikation, eine Identität: der Hammer ist ein Werkzeug; das ist sein Sinn, während wir beim Zweck eine Tätigkeit meinen: … um zu …. Deutlicher wird dies an abstrakteren Gegenständen: der Zweck einer Erzählung kann die Unterhaltung der Leser sein, während ihr Sinn erst durch die Absicht des Erzählers, bzw. die Deutung des Zuhörers oder Lesers entsteht.
Nun noch das Leben?! Was meinen wir, wenn wir im Term ‚der Sinn des Lebens‘ vom Leben sprechen? Wir meinen den Zusammenhang und die Abfolge von allem, was uns zwischen Geburt und Tod widerfährt; dies alles versuchen wir unter einen Nenner zu bringen und mit einem Sinn zu versehen. Bemerkenswert dabei ist, dass wir diese Zusammenfassung erst machen können, wenn wir uns selbst bewusst geworden sind und über ausreichende Erinnerungsfähigkeit und ein gewisses Mass an Erinnerungsinhalten verfügen. Als gerade im Leben ankommendes Menschenwesen kann ich nicht nach dem Sinn desselben fragen. Das kann ich erst, wenn ich mich erinnern, zurückblicken und in die Zukunft denken kann (und eine Sprache habe). Nun wissen wir, dass viele Tiere Erinnerungsvermögen haben; von Elefanten sagt man, dass ihr Gedächtnis Jahrzehnte zurückreicht, Hunde erinnern sich noch Jahre später an ihre einstigen Herrchen, usw. Wir wissen ebenso, dass es Tiere gibt, die in Zukunft planen können. Fragen sich die Tiere auch nach dem Sinn des Lebens? Können Tiere überhaupt fragen? Das wissen wir nicht, aber wir können bei uns selbst etwas feststellen. Das Fragen nach dem Sinn des Lebens erfordert eine Distanzierung von sich selbst und diese Distanzierung nennen wir Selbstbewusstsein. Wenn wir also den ‚Sinn des Lebens‘ fassen, dann nur, weil wir uns selbst bewusst sind. Meine Behauptung ist nun die, dass der doppeldeutige Begriff ‚Sinn‘ gar nicht doppeldeutig ist. Der Begriff bezeichnet nur etwas und dieses Etwas sind die Wahrnehmungsfunktionen, also den Sehsinn, das Gehör, den Tastsinn, usw. und den Lebenssinn. Das letztere ist nichts anderes als die sinnliche Fähigkeit uns selbst als Wesen zu erkennen, zu befragen und Zusammenhänge und Abläufe so zu beurteilen, dass sie eben einen sinnvollen Gehalt ergeben. Also auch der so genannte Lebenssinn ist eine Wahrnehumgsfunktion. Und nun will ich gar keine Hierarchien erstellen und sagen, dass der Lebenssinn komplexer sei, als der Seh- oder der Tastsinn. Denn die Sinne funktionieren eben alle hochkomplex und in Interaktion mit allen anderen Sinnen. Wir nehmen permanent mit allen verfügbaren Sinnen wahr und fügen das alles in einen grossen Zusammenhang, aus dem wir laufend mit dem Lebenssinn das generieren, was wir den ‚Sinn des Lebens‘ nennen mögen.

Untersuchen wir nun die Frage selbst, die wir guten Gewissens auch als die Frage aller Fragen stellen können. Wonach fragen wir, wenn wir nach dem Sinn des Lebens fragen? Die Frage taucht nämlich erst dann auf, wenn wir in Frage stellen, was wir sind und was wir tun. Und wie können wir überhaupt in Frage stellen, was wir sind? Sind wir überhaupt oder ist alles nur eine Einbildung? Diese skeptische Frage stellte sich ein grosser Denker im 17. Jahrhundert: René Descartes. Denn er fragte sich, wie wir überhaupt etwas wissen können. Wie können wir überhaupt glauben? Und woher nehmen wir die Gewissheit, es gäbe Gott? Denn Descartes stellte fest, dass das, was wir die Sinne nennen, also das Sehen, Hören, das Tasten, das Schmecken, das Riechen, das Fühlen – dass alle diese Sinne uns täuschen können, dass wir Dinge sehen, die es nicht gibt, Geräusche hören, die sonst niemand hört, usw. Wenn man dies alles nun in Zweifel zieht und behauptet, alles wäre nur ein Traum, denn im Traum stellen sich uns ja auch Dinge dar, die nicht sind, die verschwinden, sobald wir erwachen, wenn also die Sinne keine Gewissheit geben über unsere Existenz, woher können wir wissen, dass es etwas gewiss gibt? Es ist diese Frage selbst, der Zweifel in ihr, die uns diese Gewissheit gibt: weil ich – also ein Wesen – fragen kann, ob es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts, weiss ich, dass es mindestens dieses fragende Wesen geben muss. Bei Descartes hiess das ganz einfach: cogito, ergo sum – Ich denke, also bin ich. Was bedeutet das nun aber für den Sinn des Lebens? Erinnern wir uns: wir können einen Sinn des Lebens einfach als zum Beispiel aus der Religion gegeben annehmen, oder sagen, dass wir halt geboren werden und dann sterben. Oder wir können den Sinn des Lebens in unserer Fähigkeit freilegen nach dem Sinn des Lebens fragen zu können. Inwiefern unterscheidet sich nun aber das Fragen vom Glauben? Wenn wir einfach etwas übernehmen, was uns unsere Eltern, Priester oder Lehrer beibrachten, zum Beispiel, dass der Sinn des Lebens 42 ist oder jeden Abend zu Gott zu beten, oder ins Paradies zu kommen, worin unterscheidet sich dieses Übernehmen und Glauben vom Fragen? Das Fragen ist etwas vom Glauben und Reproduzieren von bereits Vorhandenem gänzlich unterschiedliches. Im Fragen öffnet sich für uns das Leben, das Universum und der ganze Rest auf ganz andere Weise als durch die Annahme einer von Gott geschaffenen Natur. Es sind nicht die Antworten, die uns weiter bringen, sondern die Fragen. Und warum „weiter bringen“? – Das Fragen ist eine Bewegung. Wenn wir fragen, bewegen wir uns weg von Gewissheiten und Gewohnheiten und begeben uns ins Ungewisse, Ungewohnte, ja auch ins Unheimliche. Gewöhnlich haben die meisten Menschen Angst vor dem Tod, denn der Tod ist etwas Unheimliches und wir haben keine Ahnung davon, was hinter ihm liegt, so denn etwas Überhaupt hinter ihm liegen kann. Aber wenn wir anfangen den Tod zu befragen, verändert er sich mindestens auf seiner Vorderseite, auf der unserem Leben zugewandten Seite. Wer den Sinn des Lebens zu nennen vermag, wer ihn „hat“, bleibt womöglich stehen, denn er hört auf zu fragen. Man könnte aber auch dahin gehen, den Sinn des Lebens als etwas Fliessendes, Flüchtiges, Bewegliches zu verstehen und unser Verhältnis dazu wäre nicht ein Fassen und Greifen, sondern ein Lassen und Schweifen. In einem Moment kann der Sinn des Lebens sein, eine grandiose Leistung zu erbringen und im nächsten die Schönheit einer erblühenden Rose zu erleben. Vielleicht werden wir uns darin gewahr, dass der Sinn des Lebens darin liegt, nach dem Sinn des Lebens zu fragen, womit wir wieder bei meiner oben aufgestellten Behauptung wären: beim Lebenssinn.
Machen wir die Gegenprobe! Es kommt nicht selten vor, dass man bei der Frage nach dem Sinn des Lebens keine oder eine negative Antwort erzeugt. „Alles ist sinnlos!“ und dann springt jemand vor den Zug oder schiesst sich in den Kopf. Das Problem dabei ist nicht, dass das Leben keinen Sinn hat, sondern eben gerade das Umgekehrte. Wir können, weil wir über den Lebenssinn verfügen, dem Leben einen Sinn geben oder eben keinen. Das liegt in der ausserordentlichen Fähigkeit des Menschen – er kann eine Sache, einen Zusammenhang oder eine Abfolge als sinnvoll oder als sinnlos deuten – und daraus Handlungen ableiten. Wenn wir also unser Leben als sinnlos betrachten und uns deswegen umbringen, dann war das der Lebenssinn, der diese Erkenntnis erzeugte. Der Lebensinn ermöglicht uns eben nicht nur die positive Erkenntnis des Sinns des Lebens, sondern auch die Negation, also eine Erkenntnis von Sinnlosigkeit. Wir kennen das Urteil, das wir Überlebenden fällen: der Selbstmörder unterlag einer Täuschung des Lebenssinns, so wie wir uns täuschen können über Sicht- oder Hörbares! Die Täuschung liegt darin im Nicht-Sein, also im Nichts, in das wir mit dem Tod fallen, etwas zu erkennen, das Sinn macht: wir begehen Selbstmord, weil wir glauben, damit der Sinnlosigkeit des Lebens zu entkommen; das ist aber ein Fehlschluss, eine Täuschung, denn der Tod gibt dem Leben keinen Sinn. Nur das selbstbewusste Leben kennt Sinn und Unsinn. Deswegen können wir den Selbstmörder entlasten, auch wenn uns das wegen der Schmerzen, die er uns Überlebenden zufügt, schwerfällt. Der Lebenssinn ist der Sinn unserer Sinne, der zwischen Sinn und Unsinn von Sachen, Zusammenhängen oder Abfolgen urteilen kann. Es bleibt lediglich der Vorbehalt, dass der Selbstmörder die Entscheidung zum Freitod aus dem Schluss der Sinnlosigkeit des Lebens den Irrtum einer lebenssinnlichen Täuschung apodiktisch ausschliesst. Diese Apodiktik beurteilen wir allerdings als problematisch, bzw. als grundsätzlich irrtümlich, weil es keine Wahrheit gibt, die nicht hinterfragt werden kann und hinterfragt werden soll. (Das begründen wir nicht weiter, weil das hier zu weit führt.)

Um auf den Anfang zurück zu kommen: Als Lehrer betrachte ich es als meine Aufgabe meine Schüler fürs Fragen zu öffnen, ihnen Verfahren und Wege zu zeigen, eigene Antworten und neue Fragen zu finden; als Philosoph untersuche ich die Bedingungen unter denen wir überhaupt fragen und antworten können und als Mensch in besonderer Lage gebe ich nur ein Exempel dafür, wie wir alle vor dem Tod stehen: staunend und etwas neugierig angesichts der grossen Ungewissheit, denn der Tod ist eine Frage ohne Antwort.

Autor: Patrik Schedler

Philosoph, Kurator, Lehrer

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