#Philosophie und Homosexualität – 27. / 28. Juni 2019 – 50 Jahre nach Stonewall

Am Waikiki Beach vor Honolulu gibt es diese perfekte Surfer-Welle. Während meines Urlaubs, den ich 2002 mit meinem damaligen Partner und meinem väterlichen Freund Constantin auf den Hawaii-Inseln verbrachte, notabene um einen verrückten kanadischen Künstler namens Attila Richard Lukacs (der in den 90er Jahren vielleicht bedeutendste schwule Maler) in seiner „Sommerfrische“ auf Maui zu besuchen, versuchten wir immer wieder eine gute Welle zu finden. Aber entweder waren sie zu stark, zu schnell, zu langsam – wir fanden nicht heraus, was wir falsch machten, bis wir schliesslich am letzten Tag vor unserer Abreise am Waikiki-Beach noch einmal Surfbretter mieteten. Die Wellen waren sehr schwach, aber sie hatten genau diesen Schub und das Bruchmoment, das es brauchte, um sich auf das Brett zu stellen und voran zu kommen.
Am 28. Juni 1969 war ich noch nicht ganz sechs Jahre alt und bekam nichts von den Aufständen rund um die Stonewall Inn in New York mit, jener Stadt, in die ich zwischen 1998 und 2004 fast jeden zweiten Monat reiste, um als Galerist meine dort ansässigen Künstler (von denen die meisten schwul sind) zu besuchen: unter anderen die Schweizer Maler Dieter Hall und Hans Witschi, die Fotografen Allen Frame und Stephen Barker und den eben schon erwähnten kanadischen Künstler Attila Richard Lukacs.
Aber auf jenen Sommer 1969 geht meine erste homoerotische Erinnerung zurück, an ein Bad in einem Bergsee mit meinen älteren Cousins. Seither sind 50 Jahre vergangen und mein Leben verlief in der Drift dieser modernen Geschichte der Homosexualität. Die schwule Welle, die sich 1969 an der Polizeigewalt brach, brauchte einige Jahre um als sanftes Gekräusel mein Leben zu erfassen, aber so schwach das Geplätscher war, einmal auf dem Brett gestanden, surfe ich auf dieser sanften Welle seither gemächlich dahin.
Die vielleicht bereits mit sechs Jahren einsetzende Differenzerfahrung wurde konstitutiv für mein Denken und die Etappen meiner Biografie lassen sich anhand der Etappen meiner literarisch-philosophischen Lektüren ordnen. Ein paar Aspekte dieser sich an der Homosexualität abarbeitenden Denkgeschichte möchte ich nennen. Beginnen wir mit Begriffspaaren der Differenz: gleich – anders / homosexuell – heterosexuell / normal – abnormal / natürlich – widernatürlich / gesund – krank / gottgefällig – sündhaft / rechtschaffen – kriminell / Liebe – Sex / Charakter – Identität / Familie – Einsamkeit / – und es gäbe noch weitere, aber allein schon die Analysen dieser Differenzen könnten ein Buch füllen. Bilden wir aus diesen Begriffen Aussagen! Zum Beispiel: „Der Homosexuelle erfährt sich und ist anders; seine Sexualität ist widernatürlich, sein Verhalten abnormal, wenn nicht gar kriminell; er ist psychisch krank und benimmt sich sündhaft. Er verwechselt Liebe mit Sex und anstatt seinen Charakter zu bilden, sucht er nach seiner Identität. Er ist unfähig, eine Familie zu bilden und stirbt in Einsamkeit.“ Ich bin mir sicher, dass man eine solche Aussagenfolge unschwer in westlicher, wissenschaftlicher Literatur der 50er und 60er Jahre finden kann. Heute findet man solche Aussageketten in den politischen Glaubensbekenntnissen populistischer Parteien und fundamentalistischer religiöser Gruppierungen. In 70 Staaten ist das sogar politische Doktrin.
Aber: der diskursive, strukturelle Strang dieser „Logik“ steckt in uns allen, mindestens in allen, die noch im letzten Jahrtausend geboren wurden, und wie in der Doppelhelix der DNA antwortet auf jeden Begriff ein Differenzbegriff – um es deutlich zu machen: „Der Heterosexuelle erfährt sich in seiner Sozialisation als gleich (und nicht als anders); seine Sexualität ist gemäss der Natur und entsprechend verhält er sich normal und rechtschaffen; er ist gesund und benimmt sich gottgefällig. Seine Sexualität erfüllt sich in der Liebe, aus der die Familie hervorgeht, in deren Runde er nach einem erfüllten Leben friedlich entschläft.“
Die Geschichte und Geschichten dieses Dispositivs sind uns – mehr oder weniger – bekannt. Wie sieht das ganze aber aus philosophischer Perspektive aus? Was hat das alles mit der Wahrheit und mit der Begründung von Wahrheit zu tun? Nun, offensichtlich eine ganze Menge!
Beginnen wir mit dem Komplex ‚Gott und Natur‘. Die Konstruktion ist inzwischen enttarnt. Gott wird als Schöpfer der Natur gesetzt, die Berufene, also diejenigen, die Macht beanspruchen, glauben lesen zu können und vermeintlich zu verstehen im Stande sind. Daraus wird Religion gemacht, ein System, das auf willkürlichen Glaubenssätzen beruht, aus denen die moralischen Regeln für die Gesellschaft und den einzelnen Menschen abgeleitet werden, die freilich so gestrickt sind, dass sie in erster Linie die Macht der Inhaber der „Wahrheit“ stabilisieren. Der grosse ‚Sündenfall‘ der Philosophie gegen die Homosexualität steht in Platons ‚Staat‘. Im Symposion zeichnet Platon in Sokrates’ und Diotimas Worten noch ein differenziertes Konzept der Liebe. Im ‚Staat‘ hat er sich davon verabschiedet und formuliert eine Utopie einer politisch-moralischen Ordnung, die wenig Spielraum für das Individuum lässt. In diesen beiden Texten legt Platon die Keime, die sich Jahrhunderte später im Katholizismus voll entfalten. Im Symposion löst sich die wahre Liebe von der menschlichen Dimension, um selbst zur Energie der Wahrheitssuche jenseits menschlicher Beziehungen zu werden. Die Menschenliebe ist nurmehr ein Durchgang auf dem Weg zur Erkenntnis der Ideen, also zur Liebe des Höchsten, zum Höchsten. An die Stelle der Ideen setzen dann die frühchristlichen Theologen, allen voran Augustinus Gott. Und diese Auslegung gilt fortan als ‚katholisch‘, also als die einzig wahre Lehre. Aus dem prinzipiellen Wahrheitsanspruch der platonischen Philosophie wird der absolute Wahrheitsanspruch des Katholizismus. Der zweite von Platon im ‚Staat‘ gelegte Keim ist die Organisation der Macht in spiritueller und politischer Hinsicht. Der ideale Staat wird von ‚Auserwählten‘, von Philosophen (die, notabene, nicht verheiratet sind) geführt. Im Katholizismus wird aus diesen Herrschafts-Philosophen der Klerus. Die Kombination aus der spirituell ausgerichteten Liebe mit der Errichtung eines spirituell-politischen Männerclans begründete die mächtigste „Schwulengruppe“ der Geschichte, die katholische Geistlichkeit. Ihre fünfzehnhundertjährige Macht erhielt sie sich durch die radikale Unterdrückung eben jener Energie, die sie erst ermöglicht: dem Begehren im Allgemeinen und dem homosexuellen Begehren im Besonderen. Der sich als ‚anders‘ und nicht gleich Erfahrende erkennt seine Auserwähltheit, die er dadurch legitimiert, dass er der Sünde, bzw. den Bedürfnissen des Leibs entsagt und seine ganze Liebe auf Gott, bzw. auf das mit diesem Namen errichtete Herrschaftssystem ausrichtet. Diese Psychotechnik nennt man Askese. Mit anderen Männern zusammen bildet er, der Andere, der Nicht-Gleiche eine Gemeinschaft von gleichen Nicht-Gleichen, die ihren Herrschaftsanspruch durch die Entsagung, durch die Differenz zu den Gleichen legitimiert. Das Rätsel, das es bei dieser spekulativen Analyse zu lösen gilt, ist die Frage, wie es möglich wurde, das Begehren zu diabolisieren, um daraus das Herrschaftsinstrument des schlechten Gewissens zu schmieden.
Diese Wissens- und Herrschaftsordnung funktionierte bis in die Renaissance hinein. Einen ersten Keim des Zweifels an diesem System setzte der Florentiner Marsilio Ficino (1433 – 1499), der dank der finanziellen Unterstützung Cosimo dei Medicis, Platons Symposion ins Lateinische übersetzte und damit einer grösseren Zahl von Lesern zugänglich machte. Ficino las Lukrez (ca. 99 – 53 v. Chr.), den grossen römischen Aufklärer, vielleicht einer der modernsten Philosophen der Antike überhaupt, und schrieb zu seinen Texten einen Kommentar, den er – wahrscheinlich aus Angst deswegen auf dem Scheiterhaufen zu landen – sicherheitshalber gleich selber wieder verbrannte.
Gut dreissig Jahre nach Ficinos Tod in Florenz wurde Michel de Montaigne auf Schloss Montaigne in der Nähe von Bordeaux im Périgord geboren, der wahrscheinlich Ficino nicht kannte, der aber sich ebenfalls intensiv mit Lukrez beschäftigte. In Montaignes Hauptwerk, den Essays, steht an zentraler Stelle ein Text über die Freundschaft, worin Montaigne bezugnehmend auf den Traktat ‚Von der freiwilligen Knechtschaft‘ von Montaignes jungem und jung verstorbenen Freund Etienne de la Boétie (1530 – 1563) diesem ein ‚Gemälde’, – ein Denkmal setzt. Die Verbindung dieser beider Texte ist letzten Endes das Dynamit, mit dem sich der Katholizismus atomisieren lässt, bzw. jede totalitäre, absolute Ideologie, sei es der Katholizismus, der Faschismus/Nationalsozialismus oder der Kommunismus. Was aber hat das mit der Homosexualität zu tun? Der Begriff selbst stammt aus der Zeit der Medikalisierung, bzw. Pathologisierung des abnormalen Begehrens im Laufe des 19. Jahrhunderts und ist dadurch selbst problematisch. Diese Problematik hat der französische Philosoph Michel Foucault (1926 – 1984) freigelegt und uns damit ein Instrumentarium gegeben, um über Liebe, Beziehungen, Freundschaft und Sexualität auf neue Weise denken zu lernen. Montaigne und de la Boétie lebten während der französischen Religionskriege. Wir wollen den beiden nicht unterstellen, sie hätten ein homosexuelles Verhältnis gehabt. Aber sie haben sich geliebt und in beider Überlieferung ihrer Texte ist unverkennbar die Freundschaft das Höchste. De la Boétie stellt in seinem Traktat die Freundschaft gegen die Tyrannis. Freunde gehorchen einander, sind sich gleich und können sich deswegen niemals unter die Gewalt eines Tyrannen stellen. Montaignes Skeptizismus ist das intelligible Konzept, die Freundschaft aber der lebendige Grund. Ich behaupte (und muss den Beweis vorläufig schuldig bleiben), dass es genau dieser feste Grund war und ist, der Tyrannen zittern lässt und weshalb jeder Totalitarismus auch heute noch die Homosexualität (oder dieser starke Grund, weshalb zwei Männer einander unzertrennlich verbunden sein können – wir sprechen nur von Männern, denn Tyrannis und die Unterdrückung der Frauen sind deckungsgleich) – bekämpfen. Bei den Griechen waren es heldenhafte Freundespaare, die Tyrannen töteten. De la Boétie und Montaigne legten die Fundamente der Aufklärung, die ihre politische und erkenntnistheoretische Grundlegung aus einem aus der Religion herausgelösten Naturbegriff entwickelte. Hier tritt – für einen Augenblick – Spinoza ins Bild. Durch seine Demontage der menschlichen Projektion eines personalen Gottes, der liebt und zürnt und sich durch Gebete erweichen lässt, und der Formulierung einer Identität von Gott und allumfassender Natur schliesst er ‚Widernatürlichkeit‘ prinzipiell aus. Wenn deus sive natura die einzige Substanz ist, dann kann diese Substanz keine Attribution haben, die nicht natürlich ist, oder einfacher: in der Natur kann nichts sein, das widernatürlich ist. Damit sind drei Elemente gegeben (die Freundschaft, der Skeptizismus und ein umfassender Naturbegriff), die unterdrückenden Totalitarismen der Vergangenheit und jenen Kadavern gegenwärtiger Totalitarismen den Garaus machen und der Freiheit der Liebe die Tore öffnen.

Stonewall was a riot, not a rainbow.

Heute haben wir ein verflixtes Problem mit der homosexuellen Freiheit in den westlichen Ländern. Seit zwanzig Jahren fokussierte der politische Kampf auf die Eindämmung der Diskriminierung mittels der Forderung nach dem Recht auf Ehe. Obwohl wir uns als anders erfahren und anders sind, wollen wir den Gleichen gleich werden und das Vehikel dieser Gleichmachung ist die Ehe. Aus rechtsphilosophischer Sicht spricht überhaupt nichts gegen die Gleichberechtigung in allen Aspekten des Schutzes des Individuums und seiner freien Entwicklung und Entfaltung, insbesondere auch der Gestaltung seiner privaten und gesellschaftlichen Beziehungen, im Gegenteil: diese Forderung ist nur logisch im Sinne des Rechtsstaates und es gibt kein stichhaltiges Argument dagegen. Diese Diskussion muss nicht mehr geführt werden.
Umso mehr beunruhigt die andere Seite der Medaille. Der politische Kampf für die Ehe hat zu einer neuen Differenz geführt. Heute haben wir – überspitzt formuliert – eine spiessbürgerliche Fraktion der schwulen Hetero-Kopien, die heiraten, Kinder adoptieren und das familiäre Glück als die Vollendung des Lebenssinns erachten einerseits und andrerseits die Hintern-schwenkende, tätowierte und gepiercte Party-Community, deren Lebensmodell aus einem Cocktail von aufgeblasenen Muskeln, synthetischen Drogen, oberflächlichem Sex und Urlaub besteht und nur funktioniert, solange die Illusion von Jugend aufrechterhalten werden kann. Zwischen diesen Extremen tummelt sich eine fragwürdige Fraktion der scheinbar politisch informierten und machtdiskurserprobten LGBT-Aktivisten, die zusammen mit den radikalen Feministen unter dem Banner der ‚political correctness‘ eine neue Tyrannis eines normierten Sprachgebrauchs, bzw. einer Denkordnung errichten möchten, die Abweichungen davon argumentationsfrei als ethisch und moralisch unhaltbar etikettieren. Die Erfüllung der einst als utopisch geglaubten gesellschaftlichen Akzeptanz und Toleranz führte auf unserer Seite zu einer grenzenlosen Kommerzialisierung des Lebenssinns. Aber weil es diese Seite gibt, wo Lesben und Schwule heiraten und Kinder adoptieren, wo Schwule und Lesben Bürgermeisterin oder Aussenminister werden können, ist eine andere Seite entstanden. In jenen Regionen, die sich lange am westlichen Erfolgsmodell orientierten, es aber nicht erfüllen konnten, gab es einen Backlash der Enttäuschung, die sich in einem Kulturkampf entlädt, deren Opfer erneut die Homosexuellen und die Frauen sind, die sich nicht unterordnen oder verleugnen wollen. Diktaturen und Oligarchien, die ihre Macht auf das Ressentiment aufbauen, benötigen Sündenböcke und weil die Juden nun einen Staat und eine Atombombe haben, bedient man sich vermehrt der stets vorhandenen gesellschaftlichen Marginalien der Homosexuellen und der nicht heiratswilligen, unverschleierten Frauen.
50 Jahre nach Stonewall und nach der Überwindung der AIDS-Katastrophe stehen wir vor einigen Herausforderungen, für die ich noch keine neuen Perspektiven erkenne. Allerdings gibt es durchaus eine auf Michel Foucaults späten Gedanken basierende Tradition einer ethischen und ästhetischen Haltung, die in jungen literarischen und philosophischen Stimmen (Edouard Louis, Geoffroy de Lagasnerie) einen hoffnungsvollen Klang zum Ausdruck bringt. Eine Quintessenz dieses Denkens findet sich in einem der besten Interviews, das Foucault in seinen letzten Lebensjahren gab, in jenem berühmten Interview „Von der Freundschaft als Lebensweise“ von 1981 (De l’amitié comme mode de vie, in: Le Gai Pied, Nr. 25, Paris April 1981, deutsch in: Von der Freundschaft. Michel Foucault im Gespräch. Merve Berlin, o.J.) Ich beschliesse diesen (unvollständigen) Beitrag zum fünfzigsten Jahrestag von Stonewall mit einem Zitat aus diesem Interview mit Foucault und das lautet:

„Die Homosexualität bietet eine historische Gelegenheit, bestehende Möglichkeiten von Beziehungen und Gefühlen wieder zu erschliessen, und dies nicht so sehr aufgrund der ‚wahren‘ Eigenschaften des Homosexuellen als deswegen, weil dieser gewissermassen „schräg“ liegt und so Diagonalen ins soziale Gewebe einzuzeichnen vermag, diese Möglichkeiten erscheinen lassen.“

Autor: Patrik Schedler

Philosoph, Kurator, Lehrer

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