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# Von Gärten

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Neulich ging ich durch einen der beiden neuen Teile meines Dorfes, dort, wo in den letzten zwanzig Jahren die grösseren und teureren Einfamilienhäuser gebaut wurden. Es dunkelte bereits. Niemand war zu sehen. Dafür konnte man umso besser die Gärten betrachten. Dabei überkam mich ein grosses Grausen, vor allem angesichts der von einem kleinen Roboter gepflegten Rasenfläche vor einer Villa, die mit rostigen, aus grauem Granitschotter aufragenden Metallplatten begrenzt war. Es steht, wie mit fast allem, schlimm um die Kunst und Kultur der Gärten in unseren Tagen.
Später abends, bei der Katalogisierungsarbeit meiner im Laufe des Lebens nun doch zu beachtlichem Umfang angewachsenen Bibliothek bin ich auf ein Bändchen von Wilhelm Schmid gestossen, das ich im Sommer des Jahres 1991 sorgfältig las: ‚Die Geburt der Philosophie im Garten der Lüste‘. Es handelt von Michel Foucaults ‚Archäologie des platonischen Eros‘. Der Titel inspirierte mich einmal etwas fundierter über Gärten zu schreiben, etwas, das ich schon lange tun wollte. Obwohl es zahlreiche Verbindungen zwischen Philosophie und Gärten gibt, ist mir kaum ein im eigentlichen Sinne philosophischer Text zu diesem Thema bekannt und dies, obwohl ich seit bald 15 Jahren Bücher zur Kultur und Geschichte von Gärten sammle.
Die Philosophie also sei geboren worden im Garten der Lüste, so die Behauptung dieses schönen Titels. Leider wird aber, obwohl der Text einer der besten über Foucault ist, wie ich meine, nirgends erläutert, was denn mit dem ‚Garten der Lüste‘ genau bezeichnet wird. Es ist eine still stehende Metapher, die allerdings allerhand Fantasien beflügelt. Die naheliegende, gewissermassen wörtliche Erläuterung ist: die Suche nach Wahrheit, oder genauer, die Liebe zur Wahrheit wird erstmals erfahren in einem umgrenzten Bereich, worin die Lüste wie Pflanzen gehegt und gezüchtet werden. Das heisst: erst haben Menschen sich um die Gestaltung ihres Verlangens, ihrer lustvollen Sinnlichkeit begeben und dann daraus jene Methoden entwickelt, die ihnen eine Ordnung dessen ermöglichte, wie Wahrheit zu erkennen, zu bestimmen und in ihrem Wesen zu entbergen sei. Gehen wir der Sache auf den Grund!
Zunächst sei rein phänomenologisch zu bestimmen, was ein Garten ist. Dann stellen wir die Verbindung her zwischen dem Wesen des Gartens und seiner Geschichte. Diese bildet die Brücke zur Philosophie. Wir beschliessen den Gedankengang mit einer Kritik an unserer gegenwärtigen Gartenkultur.

Was ist ein Garten? Die etymologischen Wurzeln sind eng miteinander verschlungen. Aus dem Indogermanischen kommt das Wort von ‚gerte‘ her, verwandt mit dem lateinischen hortus. Cart(o) heisst daselbst auch Schutz. Gerten sind heute noch Haselnussruten. Diese kann man zu einem Zaun verflechten. Im Niederländischen ist ‚tuin‘ ein Garten. Im Gotischen ist ein ‚garde‘ ein Gehege oder Pferch. Im Englischen ist ein ‚yard‘ ein Hof, in Skandinavien heisst dasselbe ‚gaard‘. Das althochdeutsche Wort ‚gadam‘ bedeutet Raum, Gemach, aber auch Scheune.
Heute bezeichnen wir als Garten oft lediglich jenen ein Haus umlaufenden Streifen aus Pflanzen und Steinen, begrenzt von einem Zaun.
Aber das Wort hat die grösste Tiefe dessen, was wir als Menschen an uns selbst geschichtlich begreifen. Der Mythos lässt uns gar darin erst werden, was wir sind, im Garten Eden, am Nil, in den heiligen Hainen der griechischen Götter, im Elysium, sodann im persischen Paradies, in den philosophischen Schulen Athens, die Gärten waren: Akademos (Platons Schule), Lykaion (Schule des Aristoteles) und Epikurs Kepos’ (was soviel wie Garten heisst) und zuletzt im Garten Getsemani. Im hochentwickelten Osten und Süden der Antike, in Persien und Ägypten wurden schon früh verschiedene Arten von Gärten erschaffen: Lustgärten und Obst- und Küchengärten, Gärten mit Tieren und Gärten für Götter, hängende und schwimmende Gärten.
Aber was ist ein Garten philosophisch – wenn der Mensch darin das wird, was zu sein ihm bestimmt ist? dort liegt, woher er kommt und wohin es ihn zieht?
Der Garten ist ein umgrenzter Ort. Draussen ist die Welt, die wilde Natur. Innerhalb des Gartens ist auch Natur, aber Natur, der der Mensch seinen Gestaltungswillen, seinen Sinn für Schönheit, seine Vorstellungen von Heimat, Sicherheit, Friede aufgeprägt oder eingeschrieben hat. Die Natur fügt sich dieser Gestaltung allerdings nur so lange, wie der Gärtner sich um seinen Garten sorgt und ihn pflegt.
In dem Aufsatz (zuerst ein Vortrag im Rahmen des ‚Darmstädter Gesprächs‘ über ‚Mensch und Raum‘ vom 5. August 1951) ‚Bauen – Wohnen – Denken‘ entwickelt Martin Heidegger (Vgl. Ders. Bauen – Wohnen – Denken. In: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1985. S. 139ff.) denkerisch aus ihrer Etymologie die Begriffe des Bauens und Wohnens als wesensmässig für den Menschen: “Die Art, wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist das Buan, das Wohnen“. Das althochdeutsche ‚buan‘ enthält das (ich) ‚bin‘, bzw. umgekehrt geht aus dem ‚buan‘ das Bauen als Begriff hervor. Er legt also das Bauen in das Wohnen und beides ist die Weise, wie wir – als Menschen – auf der Erde sind. So stellt Heidegger fest:
1. Bauen ist eigentlich Wohnen.
2. Das Wohnen ist die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind.
3. Das Bauen als Wohnen entfaltet sich zum Bauen, das pflegt, nämlich das Wachstum, – und zum Bauen, das Bauten errichtet.
Nun bedenkt er dieses Dreifache weiter und gelangt dadurch, dass er die Etymologie von ‚Wohnen‘ untersucht dazu, dieses als ein Bleiben zu nennen: „Wunian heisst: zufrieden sein, zum Frieden gebracht, in ihm bleiben. Das Wort meint das Freie, das Frye, und Fry bedeutet: bewahrt vor Schaden und Bedrohung, bewahrt – vor… d.h. geschont.(…) Das eigentliche Schonen ist etwas Positives und geschieht dann, wenn (…) wir etwas eigens in sein Wesen zurückbergen, es entsprechend dem Wort freien: einfrieden.“
Der Garten ist ein bebautes, umfriedetes Stück Land und grenzt ein anderes umfriedetes Stück Land an das Unsrige, dann sprechen wir vom Garten des Nachbars. Der Nachbar ist derjenige, der nächst zu meinem Garten einen Garten gebaut hat – er ist mein ‚Nachgebur‘ oder ‚Nachgebauer‘, also der in der Nähe wohnt. Heidegger nennt nun diesen bebauten Grund das Geviert, denn zunächst sind wir als Wohnende, also Daseiende(1) auf der Erde (2). Die Erde ist immer schon unter dem Himmel(3). Der Himmel aber ist, wo die Götter sind(4). Dieses Viereck: Menschen – Erde – Himmel – Götter ist, was wir bewohnen, bzw. worin wir ‚Gewohnt’ sind. Vor sehr langer Zeit, als ich gerade Heideggers ‚Sein und Zeit‘ studierte, verbrachte ich einige Wochen in einem grossen Haus mit einem kargen Garten inmitten der Stricklawa im Osten der Insel El Hierro. Dort verfasste ich, inspiriert von diesem Gedankengang Heideggers das folgende Gedicht:

Götter – Menschen – Himmel – Erde

Im Geviert wandelt das Andenken
eines anderen Seins.
Zwischen dem Leichten
und dem Schweren
pendelt das Auge
und sein Sehen
ins Künftige.
Wenn das Licht sich bricht
an dunklen Wolken
und an der scharfen Kante
des Gebirgs
fächern sich Farben zum Spiel von Gestalten
einer fernen mit den Wogen
am Gestade sich brechenden Zeit.

Was hier in Heideggerischer Manier sprachlich etwas sperrig daher kommt, lässt sich auch eleganter formulieren, was dem einst von Mussolini begeisterten, später aber von den Nazis verfolgten, auf der Flucht ums Leben gekommenen Rudolf Borchardt in seinem Büchlein ‚Der leidenschaftliche Gärtner‘ – einem der schönsten Textsammlungen über Blumen, Gärten und ihre Menschen – vortrefflich gelang, zum Beispiel so: „Denn der Garten war, und ist immer noch, die räumliche Anlage, in welcher der Mensch seine Beziehung zur Natur als Struktur niederlegt.“ (Rudolf Borchardt. Der leidenschaftliche Gärtner. Berlin 2016 – erstmals 1951 postum erschienen, S. 34) Diese Feststellung, meine ich, ist weit treffender, als jede Antwort auf die Frage sein könnte, ob denn der Garten zur Sphäre der Natur oder zur Spähre der Kunst gehöre. Entlang dieser etwas müssigen Unterscheidung entwickelt der einzige mir bekannte, ausschliesslich auf die Philosophie des Gartens bezogene Text von David E. Cooper, ‚A Philosophy of Gardens‘ seine Argumentation. Wir fragen aber noch einmal: was also ist ein Garten? mit Heidegger sagen wir: das Geviert. Aber sind seine Nomen gut gewählt? Mensch, Erde, Himmel, Götter?
Mir liegen folgende näher: Mensch, Welt, Natur und Geist. Der Garten ist das Mittlere zwischen diesen Vieren: der Schnittpunkt zwischen Mensch und Welt, Natur und Geist. Der Garten liegt in der Welt, aber er schliesst diese aus, obwohl sie ihn umschliesst. Steht der Mensch in seinem Garten, dann ist er zugleich bei sich wie er auch in der Welt ist. Dadurch, dass er einen Garten anlegt und pflegt, verhält sich der Mensch zur Welt wie zu sich selbst. Es ist in seinem Wesen, Gärtner zu sein. Der Garten ist auch der Schnittpunkt zwischen Natur und Geist, insofern der Mensch beides ist: Natur und Geist. Als Gärtner gestaltet er die Natur, die ihm gedeiht, ihm schmeichelt, sich ihm entzieht und widerstrebt. Er legt eine Ordnung an. Das ist, was der Geist tut: Strukturen und Muster anlegen. Im Garten kommen beide Substanzen zusammen, die Materie und die Ordnung. Die Philosophie des Gartens nun ist die Erkenntnis, die sich daraus ergibt. Erkennt der Mensch sich selbst, als ordnendes, strukturbildendes Lebewesen, erkennt er sich in der Dualität seiner Humanität in der Welt. Anders als in der dialektischen Bewegung, verhält es sich in der Szenographie des Gartens, die keine Hysterie des Fortschritts erzeugt, sondern die Kontemplation des Denkens pflegt. Deswegen steht der Garten am Ursprung des Guten: der Kunst, der Dichtung, der Philosophie, der Humanität, der Verantwortung, des Friedens, der Umsicht und der Sorge.
Aber es steht schlimm um das Wesen der Gärten in unserer Zeit. Und der Grund hierfür glaube ich gerade darin auszumachen: in der Zeit. Es gibt ein sehr vernünftiges Buch mit reichem und sprechendem Bildmaterial, dessen Titel lautet: Zeit für Gärten, verfasst und zusammengestellt von Eeva und Ulrich Ruoff. Die beiden Zürcher, er ehemals Stadtarchäologie, sie Dozentin für Landschaftsarchitektur zeigen auf, was Sorgfalt im Umgang auch mit den kleinsten und unscheinbarsten Grünflächen bewirken, aber ebenso, welchen Schaden Sorglosigkeit, Unachtsamkeit und Ignoranz für die Lebensqualität unserer überfüllten Städte und Landschaften bedeutet. Während früher, vor Jahrzehnten, vor allem in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, die Stadtplanung und Stadtpflege aus gärtnerischer Sicht grosse Sünden beging, sind es heute die Privaten, die Haus- und Garteneigentümer, die sich versündigen. Der Gipfel der Ignoranz sind diese „pflegeleichten Steingärten“, die leider vor allem in stadtnahen Einfamilienhausquartieren epidemisch um sich greifen. Da wird der gesamte Grund, vielleicht noch mit der Ausnahme eines klinischen Stücks Rasen (selbst künstlichen habe ich schon gesehen) rund um das Einfamilienhaus mit Schotter zugedeckt, damit man ja keine Gartenarbeit hat. Diese traurigen Steinöden gehören Leuten, die „gerne auf dem Land leben“, aber die Mühen, die Verantwortung und den Luxus des Landlebens sich nicht leisten können oder sich nicht leisten wollen. Ein Garten braucht Zeit, viel Zeit! Wer keine Zeit hat, braucht keinen Garten und wohnt doch besser in der Stadt, wo die Wege zwischen Arbeit, Einkauf und Zerstreuung kürzer sind. Wir müssen unser Land aufräumen. Wir müssen die Landschaften vom Geschwür der Zersiedelung erlösen und die Städte gartenarchitektonisch aufwerten. Eigentlich ist die Schweiz ein grosser Garten, in welchem die Buben zu viele Autobahnen und kleine Häuschen gebaut haben.
„Il faut cultiver notre jardin!“ (Voltaire, ‚Candide ou l’optimisme‘)

Einige weitere Bücher

  • Rudolf Borchardt. Der leidenschaftliche Gärtner. Berlin 2016
  • Karel Čapek. Das Jahr des Gärtners. Frankfurt a. M. 2015
  • David E. Cooper. A Philosophy of Gardens. Oxford 2006
  • Robert Harrison. Gärten. Ein Versuch über den Menschen. München 2010
  • Lafcadio Hearn. In einem japanischen Garten. Zürich 1990
  • Mathias Gunz & Christian Mueller Inderbitzin. Thurgau – Projekte für die Stillen Zonen. Sulgen 2008
  • Nadine Olonetzky. Sensationen – eine Zeitreise durch die Gartengeschichte. Basel 2007
  • Eeva und Ulrich Ruoff. Zeit für Gärten. Frauenfeld 2007
  • Hans von Trotha. Im Garten der Romantik. Berlin 2016

# Alles zu seiner Zeit

Meine Schwester Cornelia ist Künstlerin. Dieses Jahr wurde sie 60 Jahre alt und hat zu diesem Anlass eine Retrospektive über ihr Werk zusammengestellt. Die Ausstellung richteten wir in der alten Komturei in Tobel / Thurgau ein. Die Komturei Tobel war bis 1807 ein Sitz des Johanniter-Ordens. Dann übernahm der junge Kanton Thurgau die Liegenschaften und richtete 1809 darin ein Gefängnis ein, das 1973 aufgehoben wurde. Danach standen die Gebäude lange leer, bis sich der Kanton der Lasten durch die Einrichtung einer Stiftung 2006 entledigte. Diese Stiftung versucht seither den Ort kulturell zu beleben. Es finden dort Konzerte, Theateraufführungen, Ausstellungen und Feste statt.

Der Titel der Retrospektive von Cornelia Schedler in der Komturei Tobel lautet: Alles zu seiner Zeit. Die Ausstellung eröffnete ich mit einer Rede über die Zeit mit dem folgenden Wortlaut:

Retrospektive Cornelia Schedler – Alles zu seiner Zeit
Komturei Tobel/TG – 7. – 22. September 2019

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Cornelia Schedler mit mobiler Druckpresse in der Komturei Tobel

 

Eine Rückschau – das ist eine Retrospektive – versammelt die in der vergangenen Zeit geschaffenen Werke an einem Ort während einer bestimmten Dauer, hier also die Werke von Cornelia, die sie über die Jahrzehnte erschaffen und gesammelt hat. Die kommenden zwei Wochen sind eine Art von Innehalten im Fluss der Lebenszeit. In jedem Werk liegt die gewirkte Zeit. Gewiss war Papier und Farbe schon vorher, aber erst durch das schaffende Wirken wurde daraus ein Werk. Das kann man als ein Behältnis bezeichnen, das zur erscheinenden Materie gewordene Zeit enthält. Das Schaffen selbst ist somit eine Transaktion von Lebenszeit zu einen räumlichen Gegenstand. Wenn man also ein Kunstwerk erwirbt, erwirbt man auch die im Gegenstand enthaltene Schöpfungszeit des schaffenden Wesens, also Werk gewordene Lebenszeit der Künstlerin.
Wir sind schon mitten in der vielfältigen Problematik dessen, was Zeit ist und nicht ist. Und ja: ich erläutere hier nicht Cornelias Kunstwerke, denn das ist bei schöner Kunst nicht notwendig. Schönes muss man nicht erklären, Schönes kann man sehen. Deswegen spreche ich heute vor allem über den Titel der Ausstellung und im besonderen über die Zeit:
Zum Beispiel so: In hundert Jahren sind wir alle tot, die hier versammelt sind. Wahrscheinlich aber gibt es diese Gemäuer noch und es gibt wahrscheinlich auch noch Menschen, die sich mit der Geschichte dieser Mauern beschäftigen und vielleicht erhalten sich sogar einige von Cornelias Werken. Menschen pflegen mit ihrem Geist in der Zeit zu reisen: in die Zukunft, wo wir noch nicht sind oder in die Vergangenheit, wo wir nicht mehr sind oder nie waren.
Ich könnte nun, um Euch fühlen zu lassen, was Zeit ist, vorgehen wie Martin Heidegger, der grosse deutsche Philosoph des 20. Jahrhunderts mit dem schlechten Geschmack für Politik, aber hoch begabt mit genialer Gedankentiefe. Er hat das Wesen der Zeit untersucht und philosophisch erschlossen. In einer grossen Vorlesung von 1929/30 (Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit) liess er seine Hörer die Langeweile philosophisch erfahren, indem er sie in die grosse Leere stürzen liess, in das Rauschen der reinen Existenz im leeren Verstreichen der Zeit. Aber eben: alles zu seiner Zeit. Eine Rede zu einer Ausstellungseröffnung wäre für dieses Experiment nicht adäquat – aber es bieten sich hier näher liegende Erlebnisse dafür, was Zeit ist. Sie ist, wie wir ihr Wirken erleben, die Gegenwärtigkeit des Gewordenen und Werdenden. Dieser Ort hier war einst eine Johanniter-Komturei, der Verwaltungssitz eines Ritterordens. Dann wurde der Thurgau gegründet. Aus dem säkularisierten Besitz der Klöster wurden Spitäler, Schulen, Erziehungsanstalten, Waisenhäuser, Altersheime und Gefängnisse, also lauter Behältnisse für Menschen, die durch den Staat einer besonderen Zeitordnung unterworfen wurden. Das wird hier besonders spürbar, wenn man durch den Zellentrakt wandert, wo jetzt Kunstwerke hängen. Wenn man jemanden einsperrt, nimmt man ihm die Bewegungsfreiheit. Mehr aber noch wirft man ihn in den Kerker der Ereignislosigkeit, in das Nichts der leeren Zeit. Gefangene empfinden die Langeweile oft weit traumatischer, als das Eingesperrtsein. (In gegen 200 Briefen von Gefangenen kommt fast in jedem das Wort Langeweile mindestens einmal vor. Vgl. NL Karlheinz Weinberger im Sozialarchiv Zürich) Im grossen Roman über die Zeit, in Thomas Manns ‚Zauberberg‘ lesen wir: „Wenn ein Tag wie alle ist, so sind alle wie einer; und bei vollkommener Einförmigkeit würde das längste Leben als ganz kurz erlebt werden.“ (Thomas Mann. Der Zauberberg. Ausgabe Ex Libris, Zürich von 1939, S. 148) Wer ins Gefängnis gesteckt wurde, den bestrafte man mit der Langeweile, aus der doch alles Übel kommt.
„Wollte jemand die Scheidung verlangen, weil seine Frau langweilig ist,“ schrieb einst der grosse dänische Philosoph Sören Kierkegaard, „oder wollte man einen König absetzen, weil er langweilig anzusehen, (…) oder einen Minister entlassen, oder einen Journalisten mit dem Tode bestrafen, weil er entsetzlich langweilig ist, so wäre man nicht imstande damit durchzudringen. Was Wunder also, dass es rückwärts geht mit der Welt, dass das Übel immer mehr um sich greift, da die Langeweile zunimmt und Langeweile eine Wurzel alles Übels ist. Dies lässt sich vom Anbeginn der Welt her verfolgen. Die Götter langweilten sich, darum schufen sie die Menschen. Adam langweilte sich, weil er allein war, darum wurde Eva erschaffen. Von dem Augenblick an kam die Langeweile in die Welt und wuchs an Grösse in genauem Verhältnis zu dem Wachstum der Volksmenge. Adam langweilte sich allein, dann langweilten Adam und Eva sich gemeinsam, dann langweilten Adam und Eva und Kain und Abel sich en famille, dann nahm die Volksmenge in der Welt zu, und die Völker langweilten sich en masse.“(Sören Kierkegaard. Entweder – Oder. München 2003. S. 332)
Dieses Problem haben wir ja gelöst, dank Fernsehen, Massentourismus und Internet. Heute hat niemand mehr Zeit für die Langeweile. Die globale Herrschaft der atomar synchronisierten Zeitordnung spannt jeden bis hinab in den Kindergarten und hinauf bis ins Sterbehospiz ein in ein sozial verordnetes Zeitmanagement, worin sogar die Auszeit streng reglementiert ist mit Spielgruppe, Ergotherapie und Freizeitaktivität und stirbt man nicht rechtzeitig auf der Palliativabteilung, fliegt man dort hinaus. Die totale Zerstreuung realisiert sich auch räumlich dadurch, dass man ja die Ferien nicht mehr zu Hause verbringen kann – denn der Himmel fiele einem auf den Kopf – so verreist man husch hinaus in die Welt und lässt sich dort von Entertainern und Yogalehrerinnen die Zeit vertreiben, auf dass einem ja nicht langweilig werde. Blaise Pascal, der überaus kluge Mathematiker und grosse Philosoph des 17. Jahrhunderts schrieb einst, „dass das ganze Unglück der Menschen aus einem einzigen Umstand herrühre, nämlich, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können.“(Blaise Pascal. Gedanken. (Reclam) Stuttgart 1997. S. 95)
Nun: „Was also ist die Zeit?“ fragt Augustinus, der Kirchenvater aus dem 4. Jahrhundert im elften Kapitel seiner ‚Bekenntnisse‘. „Wenn niemand mich danach fragt, weiss ich’s, will ich’s aber einem Fragenden erklären, weiss ich’s nicht. Doch sage ich getrost: Das weiss ich, wenn nichts verginge, gäbe es keine vergangene Zeit, und wenn nichts käme, keine zukünftige, und wenn nichts wäre, keine gegenwärtige Zeit. Aber wie steht es nun mit jenen beiden Zeiten, der vergangenen und zukünftigen? Wie kann man sagen, dass sie sind, da doch die vergangene schon nicht mehr und die zukünftige noch nicht ist? Die gegenwärtige aber, wenn sie immer gegenwärtig wäre und nicht in Vergangenheit überginge, wäre nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit.“(Aurelius Augustinus. Bekenntnisse. Elftes Buch. München 1992. S. 312)
Für die alten Griechen gab es keinen Anfang in der Zeit. Die monotheistischen Religionen, setzten der Zeit einen Anfang durch Gottes Schöpfung und ein Ende durch das jüngste Gericht, die ewige Verdammnis oder den Einzug ins Paradies. Die Zeit der Welt war also eine Dauer zwischen Anfang und Ende, ein Abschnitt innerhalb der Ewigkeit. Isaac Newton bestimmte den Raum als unendlich in seiner Ausdehnung und die Zeit als ewig, wie die Griechen, aber unumkehrbar. 200 Jahre später warf Albert Einstein mit seiner Relativitätstheorie dieses Zeitverständnis über den Haufen. Heute gehen wir wieder davon aus, dass alles einmal begann, nämlich mit dem Urknall und alles einmal endet in einer endlich-unendlich ausgedehnten kalten und nach allen kosmischen Katastrophen übrig gebliebenen Teilchen-Suppe der ewigen Ereignislosigkeit.
Doch wo sind wir in der Weite der Weltzeit? Milliarden von Jahren nach dem Urknall und vor uns noch Milliarden von Jahren bis zum Ende des Universums. Doch lassen wir uns kurz ein auf dieses Gemäuer und seine Zeit. Als Cornelia und ich das erste Mal hierher kamen, das war schon vor einigen Jahren, spürten wir noch den Schauer gefrorener Zeit in diesen feuchten Mauern. Doch von Mal zu Mal wurde es weniger. Die Last der Vergangenheit wich mehr und mehr und die Unbestimmtheit, wohin es mit diesem Orte gehen will, lässt mit einem Male Freiheit atmen, wo einst ein scharfes Gefängnisregime regierte. Das kann uns etwas über die Zeit lehren. Sie verändert uns und alles um uns her. Sie ist Werden aus Gewordenem. Das Gewordene bestimmt uns. Das Werden entwerfen wir uns. Dazwischen liegt die Gegenwart der Freiheit im Augenblick.
Alles zu seiner Zeit: vor 900 Jahren wurde der Johanniter-Orden gegründet. Um 1226 wurde dieser Ort eine Komturei. Die früheste Beschreibung der Bauten geht zurück auf das Jahr 1638. 1809 wurde aus der Komturei ein Zuchthaus. 1973 wurde es wieder geschlossen. 2006 übernahm eine Stiftung die Gebäude vom Kanton, der sich damit einer Last und einer Verantwortung entledigte. Heute nun ist ein Tag zum Feiern. Wir feiern Cornelias 60 gelebte Jahre und mehr als 40 Jahre ihres künstlerischen Schaffens, wovon wir hier eine Übersicht erhalten. Wie steht es nun mit der Zeit und der Kunst? An einem Bild möchte ich das ganz kurz skizzieren, am grössten dieser Ausstellung, den Füllhörnern, die Sie hier sehen. Vor vier Jahren feierte der Männerchor Buch, der heute diese Vernissage musikalisch begleitet, sein hundertjähriges Bestehen mit einem dreitägigen grossen Fest. Zum diesem Anlass beauftragte der Chor Cornelia mit einem Bild für die Festbühne. Sie hat dafür diese Füllhörner gemalt. Das Füllhorn ist ein antikes Symbol für Glück, Reichtum und Überfluss. Die symbolische Verbindung von Glück und Überfluss mit einem grossen Jubiläum ist naheliegend. Aus dem Füllhorn ergiessen sich Früchte und Blumen als das, was die Natur an Überfluss produziert. Aber das Füllhorn steht auch für die Kunst, denn die Kunst hat keinen unmittelbaren Zweck, als dass sie uns erfreut und bereichert. Nun kann man sagen, weil sie keinen unmittelbaren Zweck habe, sei sie zwecklos und damit meint man dann schnell: sie habe keinen Wert. Doch das Umgekehrte ist der Fall. Erst, wenn wir die Zwecke erfüllt haben, werden wir frei und zur Freiheit drängt alles Gute hin und das ist der grösste Wert. Die Kunst – symbolisiert in den Füllhörern – ist jener freie Überfluss des Lebens jenseits der Notwendigkeit. Sie befreit uns von der uns determinierenden Zeitordnung. Erst wer sich der Kunst zuwenden kann, tritt aus dem Gefängnis der Notwendigkeiten hinaus in die Freiheit des Lebens. Dafür steht eben dieses Bild symbolisch und für das Glück, 100 Jahre singen zu können. Kehren wir zum Schluss noch einmal zurück zu der Frage nach der Zeit:

Wir sind in der Zeit, wir sind Zeit. Und Zeit beschreibt uns Augustinus wieder, als wie ein Lied. Er fragt: „Aber wie kann es geschehen, dass das Zukünftige vermindert und aufgezehrt wird, das doch noch nicht ist, und dass das Vergangene wächst, das doch bereits nicht mehr ist? Nur so, dass der Geist, in dem dies vorgeht, ein Dreifaches tut: Er erwartet, merkt auf und erinnert sich.“(Aurelius Augustinus. Bekenntnisse. 1992. S. 328) Und nun erläutert er dieses Verständnis von Zeit am Beispiel eines Liedes, das er singen kann. Wir haben das Lied gelernt. Wir erinnern uns an seinen Text und seine Melodie, aber diese Erinnern ist nicht in der Art einer Liste oder eines Bildes, sondern es ist ein Ganzes, das sich aus einer nahen Vergangenheit im Stillen noch in einer nahen Zukunft vorstellt, aber erst im Moment, wo wir es anstimmen, sich in der Gegenwart erfüllt. Doch diese Gegenwart ist nicht ein Punkt, sondern eine Spanne, ein Sattel. Hirnforscher gehen davon aus, dass wir die Gegenwart als ungefähr drei Sekunden wahrnehmen. Das Lied – und das ist die Magie der Musik – dehnt diese kurze Dauer aus, weshalb ich hier ende und das Wort wieder dem Gesang überlasse und Euch, die Ihr Euch hier versammelt habt, Eurer eigenen Zeit.

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Ich eröffne die Ausstellung; im Hintergrund der Männerchor Buch und sein Jubiläumsbild von Cornelia Schedler von 2015

#Geschmack, (bzw. Geschmacklosigkeit)

„Er hatte schon 1933 eines seiner Bücher, ‚Hitler und George‘ dem Führer und Dichter des Dritten Reiches gewidmet, eine Kombination, für deren Geschmacklosigkeit und Lächerlichkeit nur er selbst kein Gefühl hatte.“ (K. Löwith. Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Ffm. 1989, S. 86)
Für einmal erweise ich einer Geschmacklosigkeit die Ehre mich mit ihr philosophisch auseinanderzusetzen. Wir haben das Bild mit dem wurmstichigen Apfel gesehen, mit dem eine sogenannte „Volks“-Partei für sich wirbt, indem sie die Würmer als die politischen Gegner und den Apfel als die Nation, die zum Opfer des Ungeziefers wurde, darstellt. Wir konnten inzwischen einiges darüber vernehmen. Mich veranlasst diese weit herum als „Geschmacklosigkeit“ bezeichnete Allüre darüber nachzudenken, was denn Geschmack eigentlich bedeutet, denn ich stelle bei mir fest, dass das Geschmacksurteil sehr nahe beim alles dominierenden Vorurteil liegt. Ich beurteile fast alles nach ästhetischen Kriterien, wobei eben der Geschmack so etwas wie den ersten Eindruck ausmacht. Ich gebe ein Beispiel: Gelegentlich schauen wir uns die Sendung „Das perfekte Dinner“ an. Für diejenigen, die diese Sendung nicht kennen: fünf zufällig aus Bewerbern ausgewählte Hobbyköche bekochen sich an fünf aufeinanderfolgenden Tagen in ihren Wohnungen und bewerten sich gegenseitig. Das Interssante an dieser Sendung ist ja nicht des Essen, denn das können wir als Zuschauer nicht beurteilen. Das Interessante sind die Milieus, in die wir Einblick erhalten, die Wohnungen, die Einrichtung, das Verhalten der Hobbyköche, die Art, wie sie sich gegenseitig beurteilen und schliesslich die Selbsteinschätzung, die ich als Betrachter dieser Sendung im Verhältnis zu den Kandidaten treffe. Um es gleich vorweg zu nehmen: die Sympathie koppelt sich unmittelbar an meine Geschmacksempfindung der vorgeführten Wohnungen. Dazu gehört das Gebäude von aussen, die Inneneinrichtung und schliesslich der Aussenbereich. Worauf achte ich?
Sind Bücher vorhanden?
Was für Bilder hängen an den Wänden? Gibt es überhaupt Bilder?
Wie ist die Person eingerichtet? (Möbel, Objekte, Details)
Die Kleidung ist ebenfalls ein Aspekt, allerdings ein nachgeordneter. Im Verlauf der fünf Abende, an denen die Sendung zu einem Team ausgestrahlt wird, bekommt man einen erstaunlich guten Eindruck vom Charakter der Teilnehmenden. Und man fällt ein gnadenloses Geschmacksurteil.
Das nun ist in doppelter Hinsicht interessant, denn Geschmack hat eine doppelte Bedeutung: er bezeichnet erstens einen Sinn der Wahrnehmung, der im Mund erfolgt und er bedeutet zweitens ein allgemeines ästhetisches und moralisches Werturteil. Wenn wir uns also diese Sendung ansehen, wo es ja eigentlich um den Geschmackssinn geht: ist das Essen gut? Schmeckt es? – wir aber als Zuschauer davon nichts mitbekommen können, werden wir ganz automatisch auf das Werturteil verwiesen, das die Teilnehmenden ästhetisch-moralisch bewertet.
Damit sind wir wieder beim wurmstichigen Apfel, der uns über ein Bild auf den Geschmackssinn verweist, denn würden wir in einen wurmstichigen Apfel beissen (also unsere Nation aufessen), meldet sich der Geschmackssinn mit Ekel als Ungeniessbarkeit dessen, was wir zu essen beabsichtigen. Allerdings ist es so, dass wir, sofern wir sehen können, den Apfel zuerst visuell begutachten, bevor wir in ihn beissen. Tatsächlich – und auch das vermittelt uns die Sendung „Das perfekte Dinner“ – hängt der Geschmackssinn mit dem Sehsinn zusammen. Wir beurteilen Essbares zunächst optisch, also ästhetisch.
Heute gilt der Geschmack als ein subjektives Werturteil. Allerdings hatte das aus scholastischer Tradition entstandene Sprichwort in gängiger Überlieferung ‚de gustibus non est disputandum‘ (Über den Geschmack lässt sich nicht streiten) im 17. Jahrhundert, als in Frankreich ‚le goût‘ zu einem Thema der Gesellschaft wurde, gerade keine relative, subjektivistische Bedeutung, sondern im Gegenteil galt der ‚bon goût‘ als Eintrittsticket zur Elite. Der spanische Philosoph Baltasar Gracian (1601 – 1658) bestimmte den ‚buen gusto‘ als „das durch Erfahrung und unablässige Introspektion zur Vollkommenheit gebrachte Vermögen eines Menschen (hombre en su punto), der in allen Bereichen und Situationen des Lebens immer die richtige Wahl zu treffen und alle Dinge frei von Täuschung nach ihrem wirklichen Wert zu beurteilen vermag.“ (Vgl. Hist. Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, G-H, Art. Geschmack, S. 443ff.)
Die Relativierung als subjektives Urteil haben wir Kant zu verdanken. Diese Relativierung wurde bis heute nicht wirklich aufgehoben, obwohl Hans-Georg Gadamer die Kantische Subjektivierung des Geschmacks nachvollziehbar kritisiert. (Vgl. H.-G. Gadamer. Wahrheit und Methode, Tübingen, 1960/1990, S. 40ff.) Gadamer identifiziert den Geschmack durchaus in der doppelten Bedeutung als einen Sinn (Leser meiner Blogs mögen sich daran erinnern, dass ich weiter unten den Sinn des Lebens als einen eigentlichen Sinn behaupte, den Lebenssinn, der uns den Gesamtzusammenhang aller unserer sinnlichen Wahrnehmungen stiftet). Daraus folgt, dass „Sicherheit des Geschmacks (…) also Sicherheit vor dem Geschmacklosen“ (ebd. S.42) sei.
Das Problem mit dem wurmstichigen Apfel stellt sich nun wie folgt: zweifelsohne findet eine grosse Zahl an gebildeten Zeitgenossen das Apfel-Sujet der „Volks“-Partei als geschmacklos. Aber es muss ja auch eine grosse Zahl geben, die sich von dieser Geschmacklosigkeit angesprochen fühlt, wobei dieses Ansprechen auf einer tieferen symbolischen Ebene erfolgt. Das heisst: was mit diesem Bild ausgedrückt wird, beschreibt die politische Einstellung der damit Angesprochenen. Was also für eine vermeintliche Mehrheit eine Geschmacklosigkeit ist, stellt für eine ebenso vermeintliche Minderheit in unserer Gesellschaft eine politische Wirklichkeit dar. In diesem Sachverhalt liegt eine Unüberwindbarkeit, denn „guter Geschmack ist eine Empfindlichkeit, die alles Auffällige so naturhaft meidet, dass seine Reaktion dem, der keinen Geschmack hat, schlechthin unverständlich ist.“ (Ebd.) Wer also das Bild mit dem wurmstichigen Apfel als geschmacklos empfindet, kann sich kaum in jemanden versetzen, der sich davon – politisch – angesprochen fühlt, weil er darin eine politische Wirklichkeit symbolisiert sieht.
Aber wie sieht es von der anderen Seite aus? Stelle ich mir vor, ich könnte der symbolischen Bedeutung des Apfels eine wahrgenommene Wirklichkeit zuordnen, wäre dann das Bild an sich deswegen geschmackvoll? Wohl kaum! Ich behaupte, und hier bietet sich eine Brücke über das Unüberwindbare zwischen Geschmack und Geschmacklosigkeit, dass man Geschmack erkennt, auch wenn man ihn nicht hat. Das zeigt sich im Kitsch. Derjenige, der keinen Geschmack hat, aber Geschmack erkennt, richtet sich im Kitsch ein. Kitsch ist – im Gegensatz zum Geschmack – Ausdruck einer als Wahrheit vorgestellte Verlogenheit, während das Geschmacksurteil als ästhetisches Urteil sich der Wahrheit zu nähern trachtet. Deshalb ist echter Geschmack immer auch seiner selbst etwas unsicher. (Womit ich Gadamer in diesem Punkte widerspreche.) Guter Geschmack ist suchend. Der Kitsch gibt sich eine Sicherheit und versucht etwas zu sein, was er nicht ist. Womit wir bei einem Grundproblem unserer Gesellschaft angelangt sind. Durch das gnadenlose, mediale Sperrfeuer der Moden werden wir ständig mit den abscheulichsten Geschmacksverirrungen konfrontiert, die sich als Geschmack ausgeben, heute nennt man das Trends. Wer unsicher ist, aber diese Unsicherheit fliehen möchte, orientiert sich an den Trends und stellt damit unmittelbar etwas vor, was er oder sie nicht ist. Diese Trends haben längst den Bereich der Kleidung, der Frisuren, der Düfte, der Architekturen und schliesslich der Kunst hinter sich gelassen wie verbrannte Erde und sind ins Politische und sogar in die Wissenschaft und die Spiritualität vorgedrungen. Ich behaupte, dass der Terrorismus vielmehr ein Problem des Geschmacks, bzw. der Geschmacklosigkeit ist, als ein politisches Problem. Die Medien sind so sehr abhängig geworden von Trends, von Events, von noch stärkeren Reizen, dass sie mit ihrer „Berichterstattung“ die geschmacklose Inszenierung des Terrorismus geradezu beflügeln. Dieser Ungeist ist schon seit einiger Zeit auch in den Regierungen angekommen. Einige politische Führer glänzen mit einer geradezu terroristisch anmutenden Geschmacklosigkeit und mobilisieren damit den Kitsch und die Dummheit des Massen. Diese Art von Geschmacklosigkeit liegt dem Kalkül des Bildes vom wurmstichigen Apfel zugrunde. Es ist eine Art von Geschmacksterror, der von der „Volks“-Partei ausgeübt wird. Wem dieser Begriff nicht passt, weil er Schreckliches mit Ästhetischem vermischt, taugt der Begriff des Kitschs. Die Verlogenheit der Aussage tarnt sich als eine Darstellung von Wirklichkeit. Wir nennen das politischen Kitsch. Die Wähler der „Volks“-Partei, die sich vom wurmstichigen Apfel in ihrer Weltsicht bestätigt fühlen, wissen um diese Verlogenheit, aber es ist angenehmer, sich in einer Verlogenheit sicher zu fühlen, als sich unsicher auf die Suche nach Wahrheit zu machen.
Soziologisch betrachtet, ist Geschmack ein Kriterium der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Das lässt sich gut in Schulhäuserin augenfällig nachweisen. Weil es ein Zugehörigkeitskriterium ist, ist es umgekehrt auch ein Ausschlusskriterium. Kant lag falsch, Geschmack als subjektiv zu definieren. Die vorurteilshafte Wahrnehmung, die dem Geschmack zugrunde liegt, ist ein kommunikatives Phänomen, das sich durch komplexe Interaktionen von Erziehung, Sozialisation, Bildung und medialer Manipulation ergibt. In der Bildungsfrage hat leider die Erziehung zu und Bildung von Geschmack heute keinen Stellenwert mehr. Gilt es, unser Land vor weiterer Zerstörung durch hässliche Bauten, übermässigen Verkehr und politischen Kitsch zu bewahren, ist Geschmacksbildung unerlässlich. Geschmack, mithin Schönheit und Wahrheit sind auch ein politisches Problem.

# Populismus

Populismus ist kein philosophischer Begriff; er gehört ins Inventar politischer Kampfbegriffe. Gleichwohl ist das Phänomen, das inzwischen Sozialwissenschaftler zu erklären versuchen, insofern ein philosophisches Problem, als die damit verbundenen Elemente in unseren Gesellschaften Philosophen schon seit je dazu veranlasste über den Staat, bzw. über die Politik nachzudenken. Im besonderen drängt sich der Begriff für die philosophische Erörterung heute deswegen auf, weil mit ihm ein Kampf um den Kernbestand der Philosophie, der Wahrheit nämlich und ihrem manichäischen Gegenstück, der Lüge entbrannt ist und geführt wird, am eklatantesten in Amerika, aber längst nicht nur da, sondern überall und das ist philosophisch auch jenseits einer politischen Philosophie von Interesse.
Hannah Arendt schrieb in dem brillanten Essay: ‚Wahrheit und Politik‘ 1967: „Niemand hat je bezweifelt, dass es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt ist, niemand hat je die Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet. Lügen scheint zum Handwerk nicht nur des Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören.“(H. Arendt. Wahrheit und Politik, in: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays. München 2017. S. 44)
Wenn man das Verhalten von Donald Trump und Boris Johnson in den Medien verfolgt, dann überrascht auf diesem Hintergrund das fast vollständige Ausbleiben entsprechender Reaktionen innerhalb der Systeme, die diese Gestalten ermöglichen. Man muss daraus schliessen, dass offensichtliche Lügen in der Politik aufgeklärter, westlicher Zivilisationen inzwischen akzeptiert sind, ähnlich wie das in totalitären Staaten selbstverständlich war, bzw. ist. Dieses Phänomen wird getragen von dem, was man unter dem Begriff des Populismus zu fassen versucht, denn ohne die Annäherung an hinter ihnen stehende Majoritäten könnten diese Politiker und ihre Seilschaften nicht bestehen. Obwohl die von diesen Figuren und ihren Bewegungen eingeschlagenen Richtungen politisch beunruhigend sind, sind sie es für die Wahrheit im philosophischen Sinne nicht unbedingt. Die mit dem Populismus einher gehende Entwicklung befördert den Geist der Aufklärung. Durch das Auftauchen der Fratze des hässlichen Deutschen in der Gestalt der Neonazis erwacht zugleich das Gedächtnis an die menschliche und historische Schande des Dritten Reichs. Der offenbare Rassismus ihres Präsidenten kann nicht deutlicher machen, auf welchen Schicksalen der Reichtum der USA errichtet wurde und welches Konzept die Sklaverei überhaupt als wirtschaftliche Option unter Christen ermöglichte. Genauso wie der neue Rechtsradikalismus in den europäischen Ländern ist der Rassismus in Amerika der Nachklang einer kognitiven Dissonanz in historischem Ausmass. Gewiss stellen die durch populistische Scharfmacherei stark gewordenen Exponenten eine Gefahr für die Demokratie dar, ganz im Sinne der Metapher, dass der Populismus für die Demokratie wie Krebs für den Leib ist: Zellen vermehren sich an Stellen, wo sie – als quasi übergeschnappte Lebendigkeit – Organen Schaden zufügen bis zum Tod des ganzen Systems. Leider gleichen die gängigen Krebstherapien auch etwas den Reaktionen des Establishments in Bezug auf den Populismus. Leider gibt es aber weder beim Krebs noch beim Populismus eine einzige zielführende und sichere Heilmethode. Es kann durchaus sein, dass der Populismus unsere Demokratien, wie sie sich in den letzten 200 Jahren entwickelt haben, zerstören. Diese Zerstörung macht gewiss totalitären Systemen Platz, oder auch nicht. In der Geschichte ist es nur in der nachträglichen Deutung derselben so gekommen, wie es hat kommen müssen. Aus der Sicht der Nazis hätten sie ihren Krieg auch gewinnen können. In Goethes Faust sagt Mephisto von sich selbst: „Ich bin die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Der teuflische Charakter von Orban und Salvini ist offensichtlich, während Putin und Johnson eher der höheren Ordnung der Hölle, also dem mephistophelischen Rang zuzuordnen sind. Neuerdings gibt es auch einen sehr tief liegenden Höllenkreis, den der abgrundtiefen Peinlichkeit, den einzunehmen die imperialistisch veranlagten Amerikaner sich ermächtigten.
Warum ist man so schnell verleitet, wenn man über den Populismus nachdenkt, gemein zu werden? Warum regen sich so schnell schlimme Fantasien, wenn man ihre Exponenten reden hört? Sie wecken offensichtlich Energien (womit wir wieder bei der Krebsmetapher sind), bei uns negative, bei den Anhängern euphorisches WIR-Gefühl.
Die empirische Sozialforschung, die das Phänomen Populismus untersucht, stellt fest, dass es je sehr andere Motivlagen gibt, warum Wähler populistische Parteien unterstützen. Was ist ihnen gemeinsam? Der Charakter ihrer politischen Führer, die sich als mit menschlichen Makeln behaftete, gewöhnliche Männer ausgeben, die derbe Sprüche klopfen und vor allem versuchen, Macht zu erlangen und für sich selbst diese Macht, wenn sie sie haben, um jeden Preis erhalten wollen. Dieser spür- und hörbare Wille ist das, was uns politische Realisten so sehr beunruhigt, weil wir aus der Geschichte wissen, wohin das führt. „Auf Macht“, schreibt Arendt, „ist kein Verlass; sie entsteht, wenn Menschen sich für ein bestimmtes Ziel zusammentun und organisieren, und verschwindet, wenn dies Ziel erreicht oder verloren ist.“ (H. Arendt, ebd. S. 85) Das Problem beim Populismus ist seine Intoleranz. Wer im populistischen Strom schwimmt, glaubt daran, dass ihn das rettet vor Verarmung, vor dem bitteren Gefühl der historischen und persönlichen Marginalität, oder schlicht nur vor der Angst, das eigene Leben nicht in den Griff zu bekommen. Davon unterscheidet sich jetzt immer noch die überragende Mehrheit der Wähler in den von Populismen bedrohten Demokratien (nicht von jenen, wo der Populist bereits die Macht übernahm).
Das diskursive Konzept des Populismus gründet im Subjektivismus, wonach Werte, bzw. Werturteile Einstellungen und Stimmungen oder Gefühle des Subjekts, bzw. eben einer als Volk bezeichnete Gruppe von Subjekten widerspiegeln. Dagegen steht der politische Realismus, der davon ausgeht, dass es ethische und moralische Prinzipien gibt, die es zu befolgen gilt, aber im Sinne des übergeordneten Gemeinwohls hierarchisch abgestuft sind und somit auch partiell geritzt werden können. Der politische Realismus folgt in seinen politischen Werturteilen den Wahrheitsbedingungen, während der Populismus seine politischen Werturteile den Bedingungen der Behauptbarkeit unterordnet.
Als Beispiel: es ist sachlich falsch, die wirtschaftliche Misere der europäischen Unterschichten auf die Migration als Ursache zurückzuführen, aber es ist behauptbar und wird geglaubt. Politische Realisten wissen um die Komplexität der Ursachen – diese Komplexität lässt sich aber schlecht reduzieren. Eine Komplexitätsreduktion macht es weitgehend unmöglich bei der Wahrheit zu bleiben. Um auch politisch die Macht zu erhalten, müssen in dieser Konsequenz die politische Realisten zu den Waffen ihrer Gegner greifen und die Populisten als staatsgefährdende und tatsächlich für die Miseren verantwortliche Minderheit denunzieren. Das setzt allerdings eine Eskalation in Gang, denn die von den mit dem Populismus sympathisierenden Subjekte erkennen in dieser Denunziation berechtigterweise nichts weiter als ihre weitere Deklassierung und Marginalisierung, die ja gerade ihr Ressentiment und damit ihre Hinwendung zum tendenziellen Totalitarismus populistischer Bewegungen erzeugt. Um noch einmal auf die Krebsmetapher zurückzukommen: die heute erfolgsversprechendsten Krebstherapien arbeiten mit der Entnahme und Umwandlung von eigenen Zellen, die dann wieder in den befallenen Körper zurückgeführt werden. Analog dazu müsste eine heilsame Politik die homogenen Szenen der Populisten quasi positiv infiltrieren, was letztlich nur möglich ist, indem die populistischen Reizthemen ernsthaft politisch angegangen werden. Man kann das am Beispiel der Schweiz gut darstellen, denn hierzulande war der Populismus schon eine politische Dimension, als es noch keine Orbans und Salvinis gab. Die Schweiz hat schliesslich aufgrund des Drucks einer immer grösser werdenden populistischen Partei das Problem der Zuwanderung bearbeitet und nämlich unter der Federführung des politischen Gegners. Die Schweizer SVP kann heute kaum mehr mit der Migrationsthematik punkten und hat sich – just im Vorfeld von Wahlen – hoffnungslos verheddert in einem absurden Abwehrkampf gegen die durchaus auch populistische Züge entwickelnde Klimadebatte. Das föderale, demokratische System der Schweiz absorbiert erfolgreich die systemgefährdende populistische Zellbildung durch Integration der Populisten in den politischen Prozess bereits auf Gemeindeebene. Dort zeigt sich dann umgehend, ob die Populisten auch politische Lösungen zustande bringen. Während in der Schweiz sich kein Populist ernsthaft getraut, das politische System als Ganzes in Frage zu stellen, ist das in anderen europäischen Ländern ein anderes Problem. Dabei gilt es zwei Muster populistischer Bewegungen auseinanderzuhalten, nämlich den eher südeuropäischen Linkspopulismus und den eher nordeuropäischen Rechtspopulismus.
Der Linkspopulismus spitzt eklatante soziale Probleme diskursiv zu, um durch die Bewirtschaftung der Empörung über tatsächliche gesellschaftliche Missstände Mehrheiten hinter die linkspopulistisch agierenden Politiker zu bringen.
Der Rechtspopulismus bewirtschaftet die Empörung über tatsächliche gesellschaftliche Misstände durch Aufbauschung, Erzeugung von Feindbildern zur Herausbildung, bzw. Stärkung eines vermeintlichen Wir-Gefühls der Empörten, um Mehrheiten hinter die rechtspopulistischen Politiker zu scharen. Linkspopulisten prangern Missstände und die dafür verantwortlichen Reichen und Mächtigen an, während Rechtspopulisten die Institutionen des Rechtsstaates, Minderheiten und das Ausland dafür verantwortlich machen. Der entscheidende Unterschied ist, dass in der Tendenz Linkspopulisten den demokratischen Staat als solchen nicht in Frage stellen, während es sich in den Worten des deutschen Rechstphilosophen Christoph Möller (link) es sich beim Rechtspopulismus eigentlich um eine Revolte gegen den demokratischen Staat handelt, auf welche dieser nicht mit sozialwissenschaftlichen Antworten, sondern mit der Härte der Abwehr gegen Staatsfeinde operieren müsste. Auf Intoleranz, bzw. die Ablehnung des demokratischen Staates kann dieser nicht mit Toleranz und Verständnis reagieren.
Man könnte aber – und das ist nun philosophische Spekulation – sich fragen, weshalb der Populismus als ein so ernsthaftes Problem markiert wird? Die Logik des Machtdiskurses folgt dem Prinzip der Exklusion. Der eigentliche Gegenstand geriert zu einem Tabu. Also: was verbirgt die Debatte um den Populismus? Und hier folge ich der Feststellung von Philip Manow in seiner kleinen Untersuchung zur Politischen Ökonomie des Populismus, wo er schreibt, dass das erste Defizit in der Debatte darin besteht, dass in ganz überwiegendem Masse über Populismus geredet wird, ohne zugleich über Kapitalismus zu sprechen. (Vgl.: Philip Manow. Die Politische Ökonomie des Populismus. Suhrkamp, Berlin 2018. S.9) Problematisch ist die Behaftetheit des Kapitalismusbegriffs, der sich – in wissenschaftlicher Perspektive gewandelt hat (vgl. dazu als wichtige Beiträge Thomas Piketty. Das Kapital im 21. Jahrhundert. München 2016 und Shoshana Zuboff. Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Franfurt a. M. 2018) aber als politischer Kampfbegriff immer noch in den Mustern der Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts gefangen ist.
Auch wenn es richtig ist, sich über die modernen Formen des Kapitalismus Gedanken zu machen, wenn man über Populismus spricht, müssen wir die sich heute stellenden Probleme anders benennen; es sind anthropologische, systemische (machttheoretische) und ökologische Probleme, die uns – philosophisch, politisch und ökonomisch beschäftigen. Die eigentlichen Fragen stellen sich wie folgt: Wie können wir (politische Kontroll-)Systeme einrichten,
1. die in der Lage sind das Bevölkerungswachstum zu stoppen?
2. die Fehlentwicklungen und Auswüchse des Überwachungskapitalismus einzudämmen und schliesslich zu verhindern?
3. die die Herausforderungen des Klimawandels und der ökologischen Katastrophe zu bewältigen vermögen?
Diese drei Fragen bilden einen systemischen Komplex, der andere Arten wissenschaftlichen Forschens und Verstehens erfordert, als die begrenzten sozialwissenschaftlichen Antworten auf Globalisierung und Populismus. Ich stimme in meiner Einschätzung und Beobachtung meines Erfahrungsfeldes mit Yuval Noah Harari überein, dass wir gerade dabei sind, die Kontrolle über unsere Empfindungen und Gedanken zu verlieren. Der Mensch ist „hackable“, hackbar, also als System von überlegenen Systemen in noch nie dagewesenen Ausmass manipulierbar. Weil das so ist und bereits geschah, müssen wir die Aufmerksamkeit vom Populismus abziehen und uns auf die Zukunft fokussieren. (Der Populismus ist lediglich das Ergebnis erfolgreicher „Hacks“). Heute braucht es zwar ein griffiges Abwehrdispositiv für die von populistischen Strömungen verursachten Störungen, aber zugleich braucht es eine umfassende politische Kreativität. Für die Schweiz heisst das zum Beispiel, dass dieses Land ein neues Geschäftsmodell braucht. Bis jetzt hat das mit dem Handel, den Finanzdienstleistungen und einzelnen High-Tech-Sparten gut funktioniert, aber das Umfeld hat sich bereits total verändert. Dieses Geschäftsmodell könnte in der Entwicklung eines politischen Systems liegen, das nicht „hackbar“ ist, so wie die USA oder Grossbritannien (beide gehackt!). Ein solches System hätte eine Informationskultur, die sagt, wie die Dinge sind und in welchem es eine unanfechtbare Autorität für das Sagen der Wahrheit gibt. Auch den Staat muss man anders denken und anders einrichten. Eine gute Verwaltung ist heute eigentlich keine politische Frage mehr, sondern eine Frage der richtigen Programmierung von Abläufen, letztlich eine technische Angelegenheit.
Um diese Probleme zu verstehen, braucht es philosophische Anstrengungen ersten Ranges (womit ich mich auch wieder von Harari abwende, der empfiehlt, sich erstmals nicht mehr um philosophische Probleme zu kümmern, sondern um die konkreten Herausforderungen, womit er sich leider selbst auf den Rang eines politisierenden Historikers zurückstuft). Es sind am Ende die Antworten auf grundlegende philosophische Fragen, die der Kulturgeschichte den Weg weisen. Dabei spielten dramatische Klimaveränderungen seit je eine Rolle, denn Migration war in der ganzen Geschichte der Menschheit die Folge klimatischer Veränderungen. Mit Klimaveränderungen ging die Entwicklung des Bewusstseins einher und Vernunft entwickelte sich als evolutionärer Vorteil von vernünftig kommunizierenden Gruppen. Solche evolutionären Vorteile äusserten sich in der Entwicklung von Waffen, der Schrift und des Geldes. Wir stehen möglicherweise an der Schwelle, wo sich die menschliche Spezies wieder in mehrere Arten aufteilt, nicht etwa in der fehlgeleiteten Rassentheorie, sondern aufgrund des unterschiedlichen Verlaufs der Optimierungsmöglichkeiten, über die einzelne Menschengruppen verfügen und andere nicht.
Zusammenfassend wollte ich in diesem Beitrag folgendes auf den Punkt bringen: Der Populismus ist ein für unsere politischen Systeme tödliches Problem. Es kann aber nicht gelöst werden, indem man mit Kanonen auf Spatzen schiesst. Populismus ist nur ein Symptom weit grösserer Dimensionen planetarer Krankheiten; man kann es nicht allein mit sozioökonomischen Perspektiven erklären und schon gar nicht heilen. Es geht um das ungehinderte Bevölkerungswachstum, die rasante Veränderung des Weltklimas, um Technologie und um die Veränderung des menschlichen Verhaltens. In diesem Zusammenhang braucht es solidere Grundlagen des Verstehens, um vernünftiges Handeln zu planen. Gerade weil die Zeit knapp ist, sollten wir uns die Zeit nehmen, sorgfältig nachzudenken. Aber dieses Nachdenken selbst muss neu gedacht werden.

#Philosophie und Homosexualität – 27. / 28. Juni 2019 – 50 Jahre nach Stonewall

Am Waikiki Beach vor Honolulu gibt es diese perfekte Surfer-Welle. Während meines Urlaubs, den ich 2002 mit meinem damaligen Partner und meinem väterlichen Freund Constantin auf den Hawaii-Inseln verbrachte, notabene um einen verrückten kanadischen Künstler namens Attila Richard Lukacs (der in den 90er Jahren vielleicht bedeutendste schwule Maler) in seiner „Sommerfrische“ auf Maui zu besuchen, versuchten wir immer wieder eine gute Welle zu finden. Aber entweder waren sie zu stark, zu schnell, zu langsam – wir fanden nicht heraus, was wir falsch machten, bis wir schliesslich am letzten Tag vor unserer Abreise am Waikiki-Beach noch einmal Surfbretter mieteten. Die Wellen waren sehr schwach, aber sie hatten genau diesen Schub und das Bruchmoment, das es brauchte, um sich auf das Brett zu stellen und voran zu kommen.
Am 28. Juni 1969 war ich noch nicht ganz sechs Jahre alt und bekam nichts von den Aufständen rund um die Stonewall Inn in New York mit, jener Stadt, in die ich zwischen 1998 und 2004 fast jeden zweiten Monat reiste, um als Galerist meine dort ansässigen Künstler (von denen die meisten schwul sind) zu besuchen: unter anderen die Schweizer Maler Dieter Hall und Hans Witschi, die Fotografen Allen Frame und Stephen Barker und den eben schon erwähnten kanadischen Künstler Attila Richard Lukacs.
Aber auf jenen Sommer 1969 geht meine erste homoerotische Erinnerung zurück, an ein Bad in einem Bergsee mit meinen älteren Cousins. Seither sind 50 Jahre vergangen und mein Leben verlief in der Drift dieser modernen Geschichte der Homosexualität. Die schwule Welle, die sich 1969 an der Polizeigewalt brach, brauchte einige Jahre um als sanftes Gekräusel mein Leben zu erfassen, aber so schwach das Geplätscher war, einmal auf dem Brett gestanden, surfe ich auf dieser sanften Welle seither gemächlich dahin.
Die vielleicht bereits mit sechs Jahren einsetzende Differenzerfahrung wurde konstitutiv für mein Denken und die Etappen meiner Biografie lassen sich anhand der Etappen meiner literarisch-philosophischen Lektüren ordnen. Ein paar Aspekte dieser sich an der Homosexualität abarbeitenden Denkgeschichte möchte ich nennen. Beginnen wir mit Begriffspaaren der Differenz: gleich – anders / homosexuell – heterosexuell / normal – abnormal / natürlich – widernatürlich / gesund – krank / gottgefällig – sündhaft / rechtschaffen – kriminell / Liebe – Sex / Charakter – Identität / Familie – Einsamkeit / – und es gäbe noch weitere, aber allein schon die Analysen dieser Differenzen könnten ein Buch füllen. Bilden wir aus diesen Begriffen Aussagen! Zum Beispiel: „Der Homosexuelle erfährt sich und ist anders; seine Sexualität ist widernatürlich, sein Verhalten abnormal, wenn nicht gar kriminell; er ist psychisch krank und benimmt sich sündhaft. Er verwechselt Liebe mit Sex und anstatt seinen Charakter zu bilden, sucht er nach seiner Identität. Er ist unfähig, eine Familie zu bilden und stirbt in Einsamkeit.“ Ich bin mir sicher, dass man eine solche Aussagenfolge unschwer in westlicher, wissenschaftlicher Literatur der 50er und 60er Jahre finden kann. Heute findet man solche Aussageketten in den politischen Glaubensbekenntnissen populistischer Parteien und fundamentalistischer religiöser Gruppierungen. In 70 Staaten ist das sogar politische Doktrin.
Aber: der diskursive, strukturelle Strang dieser „Logik“ steckt in uns allen, mindestens in allen, die noch im letzten Jahrtausend geboren wurden, und wie in der Doppelhelix der DNA antwortet auf jeden Begriff ein Differenzbegriff – um es deutlich zu machen: „Der Heterosexuelle erfährt sich in seiner Sozialisation als gleich (und nicht als anders); seine Sexualität ist gemäss der Natur und entsprechend verhält er sich normal und rechtschaffen; er ist gesund und benimmt sich gottgefällig. Seine Sexualität erfüllt sich in der Liebe, aus der die Familie hervorgeht, in deren Runde er nach einem erfüllten Leben friedlich entschläft.“
Die Geschichte und Geschichten dieses Dispositivs sind uns – mehr oder weniger – bekannt. Wie sieht das ganze aber aus philosophischer Perspektive aus? Was hat das alles mit der Wahrheit und mit der Begründung von Wahrheit zu tun? Nun, offensichtlich eine ganze Menge!
Beginnen wir mit dem Komplex ‚Gott und Natur‘. Die Konstruktion ist inzwischen enttarnt. Gott wird als Schöpfer der Natur gesetzt, die Berufene, also diejenigen, die Macht beanspruchen, glauben lesen zu können und vermeintlich zu verstehen im Stande sind. Daraus wird Religion gemacht, ein System, das auf willkürlichen Glaubenssätzen beruht, aus denen die moralischen Regeln für die Gesellschaft und den einzelnen Menschen abgeleitet werden, die freilich so gestrickt sind, dass sie in erster Linie die Macht der Inhaber der „Wahrheit“ stabilisieren. Der grosse ‚Sündenfall‘ der Philosophie gegen die Homosexualität steht in Platons ‚Staat‘. Im Symposion zeichnet Platon in Sokrates’ und Diotimas Worten noch ein differenziertes Konzept der Liebe. Im ‚Staat‘ hat er sich davon verabschiedet und formuliert eine Utopie einer politisch-moralischen Ordnung, die wenig Spielraum für das Individuum lässt. In diesen beiden Texten legt Platon die Keime, die sich Jahrhunderte später im Katholizismus voll entfalten. Im Symposion löst sich die wahre Liebe von der menschlichen Dimension, um selbst zur Energie der Wahrheitssuche jenseits menschlicher Beziehungen zu werden. Die Menschenliebe ist nurmehr ein Durchgang auf dem Weg zur Erkenntnis der Ideen, also zur Liebe des Höchsten, zum Höchsten. An die Stelle der Ideen setzen dann die frühchristlichen Theologen, allen voran Augustinus Gott. Und diese Auslegung gilt fortan als ‚katholisch‘, also als die einzig wahre Lehre. Aus dem prinzipiellen Wahrheitsanspruch der platonischen Philosophie wird der absolute Wahrheitsanspruch des Katholizismus. Der zweite von Platon im ‚Staat‘ gelegte Keim ist die Organisation der Macht in spiritueller und politischer Hinsicht. Der ideale Staat wird von ‚Auserwählten‘, von Philosophen (die, notabene, nicht verheiratet sind) geführt. Im Katholizismus wird aus diesen Herrschafts-Philosophen der Klerus. Die Kombination aus der spirituell ausgerichteten Liebe mit der Errichtung eines spirituell-politischen Männerclans begründete die mächtigste „Schwulengruppe“ der Geschichte, die katholische Geistlichkeit. Ihre fünfzehnhundertjährige Macht erhielt sie sich durch die radikale Unterdrückung eben jener Energie, die sie erst ermöglicht: dem Begehren im Allgemeinen und dem homosexuellen Begehren im Besonderen. Der sich als ‚anders‘ und nicht gleich Erfahrende erkennt seine Auserwähltheit, die er dadurch legitimiert, dass er der Sünde, bzw. den Bedürfnissen des Leibs entsagt und seine ganze Liebe auf Gott, bzw. auf das mit diesem Namen errichtete Herrschaftssystem ausrichtet. Diese Psychotechnik nennt man Askese. Mit anderen Männern zusammen bildet er, der Andere, der Nicht-Gleiche eine Gemeinschaft von gleichen Nicht-Gleichen, die ihren Herrschaftsanspruch durch die Entsagung, durch die Differenz zu den Gleichen legitimiert. Das Rätsel, das es bei dieser spekulativen Analyse zu lösen gilt, ist die Frage, wie es möglich wurde, das Begehren zu diabolisieren, um daraus das Herrschaftsinstrument des schlechten Gewissens zu schmieden.
Diese Wissens- und Herrschaftsordnung funktionierte bis in die Renaissance hinein. Einen ersten Keim des Zweifels an diesem System setzte der Florentiner Marsilio Ficino (1433 – 1499), der dank der finanziellen Unterstützung Cosimo dei Medicis, Platons Symposion ins Lateinische übersetzte und damit einer grösseren Zahl von Lesern zugänglich machte. Ficino las Lukrez (ca. 99 – 53 v. Chr.), den grossen römischen Aufklärer, vielleicht einer der modernsten Philosophen der Antike überhaupt, und schrieb zu seinen Texten einen Kommentar, den er – wahrscheinlich aus Angst deswegen auf dem Scheiterhaufen zu landen – sicherheitshalber gleich selber wieder verbrannte.
Gut dreissig Jahre nach Ficinos Tod in Florenz wurde Michel de Montaigne auf Schloss Montaigne in der Nähe von Bordeaux im Périgord geboren, der wahrscheinlich Ficino nicht kannte, der aber sich ebenfalls intensiv mit Lukrez beschäftigte. In Montaignes Hauptwerk, den Essays, steht an zentraler Stelle ein Text über die Freundschaft, worin Montaigne bezugnehmend auf den Traktat ‚Von der freiwilligen Knechtschaft‘ von Montaignes jungem und jung verstorbenen Freund Etienne de la Boétie (1530 – 1563) diesem ein ‚Gemälde’, – ein Denkmal setzt. Die Verbindung dieser beider Texte ist letzten Endes das Dynamit, mit dem sich der Katholizismus atomisieren lässt, bzw. jede totalitäre, absolute Ideologie, sei es der Katholizismus, der Faschismus/Nationalsozialismus oder der Kommunismus. Was aber hat das mit der Homosexualität zu tun? Der Begriff selbst stammt aus der Zeit der Medikalisierung, bzw. Pathologisierung des abnormalen Begehrens im Laufe des 19. Jahrhunderts und ist dadurch selbst problematisch. Diese Problematik hat der französische Philosoph Michel Foucault (1926 – 1984) freigelegt und uns damit ein Instrumentarium gegeben, um über Liebe, Beziehungen, Freundschaft und Sexualität auf neue Weise denken zu lernen. Montaigne und de la Boétie lebten während der französischen Religionskriege. Wir wollen den beiden nicht unterstellen, sie hätten ein homosexuelles Verhältnis gehabt. Aber sie haben sich geliebt und in beider Überlieferung ihrer Texte ist unverkennbar die Freundschaft das Höchste. De la Boétie stellt in seinem Traktat die Freundschaft gegen die Tyrannis. Freunde gehorchen einander, sind sich gleich und können sich deswegen niemals unter die Gewalt eines Tyrannen stellen. Montaignes Skeptizismus ist das intelligible Konzept, die Freundschaft aber der lebendige Grund. Ich behaupte (und muss den Beweis vorläufig schuldig bleiben), dass es genau dieser feste Grund war und ist, der Tyrannen zittern lässt und weshalb jeder Totalitarismus auch heute noch die Homosexualität (oder dieser starke Grund, weshalb zwei Männer einander unzertrennlich verbunden sein können – wir sprechen nur von Männern, denn Tyrannis und die Unterdrückung der Frauen sind deckungsgleich) – bekämpfen. Bei den Griechen waren es heldenhafte Freundespaare, die Tyrannen töteten. De la Boétie und Montaigne legten die Fundamente der Aufklärung, die ihre politische und erkenntnistheoretische Grundlegung aus einem aus der Religion herausgelösten Naturbegriff entwickelte. Hier tritt – für einen Augenblick – Spinoza ins Bild. Durch seine Demontage der menschlichen Projektion eines personalen Gottes, der liebt und zürnt und sich durch Gebete erweichen lässt, und der Formulierung einer Identität von Gott und allumfassender Natur schliesst er ‚Widernatürlichkeit‘ prinzipiell aus. Wenn deus sive natura die einzige Substanz ist, dann kann diese Substanz keine Attribution haben, die nicht natürlich ist, oder einfacher: in der Natur kann nichts sein, das widernatürlich ist. Damit sind drei Elemente gegeben (die Freundschaft, der Skeptizismus und ein umfassender Naturbegriff), die unterdrückenden Totalitarismen der Vergangenheit und jenen Kadavern gegenwärtiger Totalitarismen den Garaus machen und der Freiheit der Liebe die Tore öffnen.

Stonewall was a riot, not a rainbow.

Heute haben wir ein verflixtes Problem mit der homosexuellen Freiheit in den westlichen Ländern. Seit zwanzig Jahren fokussierte der politische Kampf auf die Eindämmung der Diskriminierung mittels der Forderung nach dem Recht auf Ehe. Obwohl wir uns als anders erfahren und anders sind, wollen wir den Gleichen gleich werden und das Vehikel dieser Gleichmachung ist die Ehe. Aus rechtsphilosophischer Sicht spricht überhaupt nichts gegen die Gleichberechtigung in allen Aspekten des Schutzes des Individuums und seiner freien Entwicklung und Entfaltung, insbesondere auch der Gestaltung seiner privaten und gesellschaftlichen Beziehungen, im Gegenteil: diese Forderung ist nur logisch im Sinne des Rechtsstaates und es gibt kein stichhaltiges Argument dagegen. Diese Diskussion muss nicht mehr geführt werden.
Umso mehr beunruhigt die andere Seite der Medaille. Der politische Kampf für die Ehe hat zu einer neuen Differenz geführt. Heute haben wir – überspitzt formuliert – eine spiessbürgerliche Fraktion der schwulen Hetero-Kopien, die heiraten, Kinder adoptieren und das familiäre Glück als die Vollendung des Lebenssinns erachten einerseits und andrerseits die Hintern-schwenkende, tätowierte und gepiercte Party-Community, deren Lebensmodell aus einem Cocktail von aufgeblasenen Muskeln, synthetischen Drogen, oberflächlichem Sex und Urlaub besteht und nur funktioniert, solange die Illusion von Jugend aufrechterhalten werden kann. Zwischen diesen Extremen tummelt sich eine fragwürdige Fraktion der scheinbar politisch informierten und machtdiskurserprobten LGBT-Aktivisten, die zusammen mit den radikalen Feministen unter dem Banner der ‚political correctness‘ eine neue Tyrannis eines normierten Sprachgebrauchs, bzw. einer Denkordnung errichten möchten, die Abweichungen davon argumentationsfrei als ethisch und moralisch unhaltbar etikettieren. Die Erfüllung der einst als utopisch geglaubten gesellschaftlichen Akzeptanz und Toleranz führte auf unserer Seite zu einer grenzenlosen Kommerzialisierung des Lebenssinns. Aber weil es diese Seite gibt, wo Lesben und Schwule heiraten und Kinder adoptieren, wo Schwule und Lesben Bürgermeisterin oder Aussenminister werden können, ist eine andere Seite entstanden. In jenen Regionen, die sich lange am westlichen Erfolgsmodell orientierten, es aber nicht erfüllen konnten, gab es einen Backlash der Enttäuschung, die sich in einem Kulturkampf entlädt, deren Opfer erneut die Homosexuellen und die Frauen sind, die sich nicht unterordnen oder verleugnen wollen. Diktaturen und Oligarchien, die ihre Macht auf das Ressentiment aufbauen, benötigen Sündenböcke und weil die Juden nun einen Staat und eine Atombombe haben, bedient man sich vermehrt der stets vorhandenen gesellschaftlichen Marginalien der Homosexuellen und der nicht heiratswilligen, unverschleierten Frauen.
50 Jahre nach Stonewall und nach der Überwindung der AIDS-Katastrophe stehen wir vor einigen Herausforderungen, für die ich noch keine neuen Perspektiven erkenne. Allerdings gibt es durchaus eine auf Michel Foucaults späten Gedanken basierende Tradition einer ethischen und ästhetischen Haltung, die in jungen literarischen und philosophischen Stimmen (Edouard Louis, Geoffroy de Lagasnerie) einen hoffnungsvollen Klang zum Ausdruck bringt. Eine Quintessenz dieses Denkens findet sich in einem der besten Interviews, das Foucault in seinen letzten Lebensjahren gab, in jenem berühmten Interview „Von der Freundschaft als Lebensweise“ von 1981 (De l’amitié comme mode de vie, in: Le Gai Pied, Nr. 25, Paris April 1981, deutsch in: Von der Freundschaft. Michel Foucault im Gespräch. Merve Berlin, o.J.) Ich beschliesse diesen (unvollständigen) Beitrag zum fünfzigsten Jahrestag von Stonewall mit einem Zitat aus diesem Interview mit Foucault und das lautet:

„Die Homosexualität bietet eine historische Gelegenheit, bestehende Möglichkeiten von Beziehungen und Gefühlen wieder zu erschliessen, und dies nicht so sehr aufgrund der ‚wahren‘ Eigenschaften des Homosexuellen als deswegen, weil dieser gewissermassen „schräg“ liegt und so Diagonalen ins soziale Gewebe einzuzeichnen vermag, diese Möglichkeiten erscheinen lassen.“

# Vom Sinn des Lebens

Jedes Jahr führen wir an der Berufsschule vor den Sommerferien Projekttage durch. Die Themen werden von den Schülern durch ein Auswahlverfahren gewählt. Das Thema dieses Jahres ist: der Sinn des Lebens. Ich selbst kann dieses Jahr nicht teilnehmen, deswegen melde ich mich schriftlich, denn ich halte es für angebracht, mich dazu als Lehrer und darüber hinaus als Philosoph zu äussern, zumal ich selbst mich in einer Lebenslage befinde, wo die Frage nach dem Sinn des Lebens sich in den Vordergrund rückt. Bevor ich auf das eigentliche Thema eingehe, also den Sinn des Lebens, gehe ich auf meine Motivation ein, mich zu äussern. Das sind drei Aspekte: 1. Ich bin Lehrer. 2. Ich bin Philosoph. 3. Eine schwere Krankheit warf mich aus dem beruflichen Alltag und konfrontiert mich mit der Wahrscheinlichkeit eines nahen Todes.
1. Was ist eigentlich ein Lehrer? Wir kennen alle unsere Lehrer, denen wir ausgeliefert waren. Was haben sie mit uns getan? Sie haben versucht, uns Dinge beizubringen, die wir im „wirklichen“ Leben, also dem Leben jenseits der Schule, gebrauchen können. Das ist ihnen im Hinblick auf das Lesen, das Schreiben und das Rechnen gut bis mässig gelungen. Vielleicht hatten wir das Glück, von einigen unserer Lehrer inspiriert worden zu sein. Vielleicht hatten wir das Pech, dass wir von ihnen gequält, deklassiert, missbilligt wurden. Vielleicht haben sie unser Selbstbewusstsein gestärkt, vielleicht haben sie es geschwächt oder gar zerstört. Das können Lehrer. Sie sind wichtige Figuren in unserer Lebensgeschichte. Sie prägen uns. Sie prägen unsere Wahrnehmung der Gesellschaft, der Herrschaftsordnungen, der Bewertungen und sie geben uns im Positiven wie im Negativen Maßstäbe dafür, was wichtig und was nicht wichtig ist und das tun sie in jedem Fall, selbst dann, wenn sie als Lehrer versagen. Die grösste Wirkung der Lehrer auf uns ist das Mass ihrer Anerkennung. Dieses Mass der Anerkennung erfahren wir gemeinhin als Bewertung durch die Noten, die sie uns geben. Dahinter liegt aber noch viel mehr. Selbst einem Schüler, der immer nur gute Noten schreibt, kann die menschliche Anerkennung durch den Lehrer verwehrt bleiben. Er wird darunter ein Leben lang leiden. Umgekehrt kann ein Schüler, der schlechte Noten hat, trotzdem vom Lehrer anerkannt und gefördert werden. Dieser Schüler wird feststellen, dass Noten zweitrangig sind, dass sie kaum eine Bedeutung haben im Leben. Das Entscheidende ist die Anerkennung. Der Lehrer ist derjenige Mensch in unserer Biografie, der nach unseren Eltern, die uns die primäre Anerkennung zollen und von denen wir die Liebe lernen (oder nicht lernen), uns die Anerkennung der Gesellschaft gibt. Durch den Lehrer werden wir in das gesellschaftliche System aufgenommen und von ihm anerkannt. Verweigert uns der Lehrer die Anerkennung, bedeutet das, dass – im Prinzip – uns die Gesellschaft die Anerkennung verwehrt. Wir werden nach der Schule um diese Anerkennung weit mehr kämpfen müssen, als jene, die die Anerkennung in der Schule erhalten haben. In dieser Funktion, die ein Lehrer hat, ist er ein entscheidender Faktor in der Frage nach dem Sinn des Lebens. Ein grosser deutscher Philosoph des 19. Jahrhunderts, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, erkannte, dass die Anerkennung die Grundlage ist für das Funktionieren einer Gesellschaft und weil der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist, ein zoon politikon, ein politisches Tier, ein auf die Gemeinschaft ausgerichtetes Wesen, wie das ein antiker Philosoph, der grosse Aristoteles im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung formulierte, ist die Anerkennung das Scharnier zwischen unserer nackten Existenz als Mensch und dem Sinn, den wir dieser Existenz zu geben vermögen. Nun bin selbst Lehrer und diese Profession erachte ich als zutiefst sinnvoll. Wir neigen dazu, die Dinge, die wir tun, nach dem Sinn zu befragen und daraus auch den Sinn für alles abzuleiten. Nun, was ist sinnvolles Tun? Sinnvolles Tun ist: Erzeugen, aufziehen, pflegen, heilen, bilden, gestalten, retten, lernen, lachen, lieben, geniessen.
2. Was ist ein Philosoph? Das werde ich gelegentlich gefragt. Ein Philosoph – so sagt das aus dem Altgriechischen philia und sophia zusammengesetzte Wort – ist ein Liebhaber, ein Freund der Weisheit. Die Philosophie ist aber auch die erste Wissenschaft, denn sie untersucht die Wahrheit und damit die ersten Dinge überhaupt. Dazu gehört auch die Frage nach dem Sinn des Lebens. Darüber habe ich eine Menge nachgedacht und kann mich dazu äussern.
3. Wird die eigene Existenz bedroht, sei es durch einen schweren Verlust, durch eine Niederlage, durch eine Krankheit, stellt sich die Sinnfrage drängender als sonst.

Es gibt eine ganze Reihe von vorläufigen Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, z.B. die religiöse Antwort, die heisst: Diene Gott und führe ein gottgefälliges Leben!
Oder die Antworten aus Monthy Pythons Film „The Meaning of Life“ : das Wunder der Geburt, Wachsen und Lernen, Gegeneinander Kämpfen, Fressen, und am Ende der Tod. Oder aus dem Buch „The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“ – dort lautet die über Millionen Jahre von einem Supercomputer berechnete Antwort auf die Frage „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“: 42.
Alle Antworten sind einigermassen absurd. Aber: jedem das Seine. Wer möchte, bediene sich: Gott, Tod oder 42 – alles gleich gut. Oder nicht?
Bevor wir die Frage selbst untersuchen, sollten wir uns vergegenwärtigen, was denn eigentlich mit dem Sinn einerseits und dem Leben andrerseits gemeint ist. Etwas fällt auf! Im Deutschen, Französischen und im Englischen bezeichnet das Wort Sinn, sens, sense zweierlei: einerseits sind damit die Wahrnehmungsfunktionen gemeint: Sehsinn, Gehör, Tastsinn, usw.; andrerseits ist Sinn auch der positive Gehalt einer Sache, eines Zusammenhangs oder eine Abfolge; dabei ist der Sinn einer Sache zu unterscheiden vom Zweck einer Sache. Der Zweck einer Sache liegt in ihr selbst, wie zum Beispiel das Hämmern der Zweck der Sache ‚Hammer‘ ist. Im Gegensatz dazu geben wir einer Sache den Sinn. Wenn wir vom Sinn einer Sache sprechen, erzeugen wir eine Identifikation, eine Identität: der Hammer ist ein Werkzeug; das ist sein Sinn, während wir beim Zweck eine Tätigkeit meinen: … um zu …. Deutlicher wird dies an abstrakteren Gegenständen: der Zweck einer Erzählung kann die Unterhaltung der Leser sein, während ihr Sinn erst durch die Absicht des Erzählers, bzw. die Deutung des Zuhörers oder Lesers entsteht.
Nun noch das Leben?! Was meinen wir, wenn wir im Term ‚der Sinn des Lebens‘ vom Leben sprechen? Wir meinen den Zusammenhang und die Abfolge von allem, was uns zwischen Geburt und Tod widerfährt; dies alles versuchen wir unter einen Nenner zu bringen und mit einem Sinn zu versehen. Bemerkenswert dabei ist, dass wir diese Zusammenfassung erst machen können, wenn wir uns selbst bewusst geworden sind und über ausreichende Erinnerungsfähigkeit und ein gewisses Mass an Erinnerungsinhalten verfügen. Als gerade im Leben ankommendes Menschenwesen kann ich nicht nach dem Sinn desselben fragen. Das kann ich erst, wenn ich mich erinnern, zurückblicken und in die Zukunft denken kann (und eine Sprache habe). Nun wissen wir, dass viele Tiere Erinnerungsvermögen haben; von Elefanten sagt man, dass ihr Gedächtnis Jahrzehnte zurückreicht, Hunde erinnern sich noch Jahre später an ihre einstigen Herrchen, usw. Wir wissen ebenso, dass es Tiere gibt, die in Zukunft planen können. Fragen sich die Tiere auch nach dem Sinn des Lebens? Können Tiere überhaupt fragen? Das wissen wir nicht, aber wir können bei uns selbst etwas feststellen. Das Fragen nach dem Sinn des Lebens erfordert eine Distanzierung von sich selbst und diese Distanzierung nennen wir Selbstbewusstsein. Wenn wir also den ‚Sinn des Lebens‘ fassen, dann nur, weil wir uns selbst bewusst sind. Meine Behauptung ist nun die, dass der doppeldeutige Begriff ‚Sinn‘ gar nicht doppeldeutig ist. Der Begriff bezeichnet nur etwas und dieses Etwas sind die Wahrnehmungsfunktionen, also den Sehsinn, das Gehör, den Tastsinn, usw. und den Lebenssinn. Das letztere ist nichts anderes als die sinnliche Fähigkeit uns selbst als Wesen zu erkennen, zu befragen und Zusammenhänge und Abläufe so zu beurteilen, dass sie eben einen sinnvollen Gehalt ergeben. Also auch der so genannte Lebenssinn ist eine Wahrnehumgsfunktion. Und nun will ich gar keine Hierarchien erstellen und sagen, dass der Lebenssinn komplexer sei, als der Seh- oder der Tastsinn. Denn die Sinne funktionieren eben alle hochkomplex und in Interaktion mit allen anderen Sinnen. Wir nehmen permanent mit allen verfügbaren Sinnen wahr und fügen das alles in einen grossen Zusammenhang, aus dem wir laufend mit dem Lebenssinn das generieren, was wir den ‚Sinn des Lebens‘ nennen mögen.

Untersuchen wir nun die Frage selbst, die wir guten Gewissens auch als die Frage aller Fragen stellen können. Wonach fragen wir, wenn wir nach dem Sinn des Lebens fragen? Die Frage taucht nämlich erst dann auf, wenn wir in Frage stellen, was wir sind und was wir tun. Und wie können wir überhaupt in Frage stellen, was wir sind? Sind wir überhaupt oder ist alles nur eine Einbildung? Diese skeptische Frage stellte sich ein grosser Denker im 17. Jahrhundert: René Descartes. Denn er fragte sich, wie wir überhaupt etwas wissen können. Wie können wir überhaupt glauben? Und woher nehmen wir die Gewissheit, es gäbe Gott? Denn Descartes stellte fest, dass das, was wir die Sinne nennen, also das Sehen, Hören, das Tasten, das Schmecken, das Riechen, das Fühlen – dass alle diese Sinne uns täuschen können, dass wir Dinge sehen, die es nicht gibt, Geräusche hören, die sonst niemand hört, usw. Wenn man dies alles nun in Zweifel zieht und behauptet, alles wäre nur ein Traum, denn im Traum stellen sich uns ja auch Dinge dar, die nicht sind, die verschwinden, sobald wir erwachen, wenn also die Sinne keine Gewissheit geben über unsere Existenz, woher können wir wissen, dass es etwas gewiss gibt? Es ist diese Frage selbst, der Zweifel in ihr, die uns diese Gewissheit gibt: weil ich – also ein Wesen – fragen kann, ob es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts, weiss ich, dass es mindestens dieses fragende Wesen geben muss. Bei Descartes hiess das ganz einfach: cogito, ergo sum – Ich denke, also bin ich. Was bedeutet das nun aber für den Sinn des Lebens? Erinnern wir uns: wir können einen Sinn des Lebens einfach als zum Beispiel aus der Religion gegeben annehmen, oder sagen, dass wir halt geboren werden und dann sterben. Oder wir können den Sinn des Lebens in unserer Fähigkeit freilegen nach dem Sinn des Lebens fragen zu können. Inwiefern unterscheidet sich nun aber das Fragen vom Glauben? Wenn wir einfach etwas übernehmen, was uns unsere Eltern, Priester oder Lehrer beibrachten, zum Beispiel, dass der Sinn des Lebens 42 ist oder jeden Abend zu Gott zu beten, oder ins Paradies zu kommen, worin unterscheidet sich dieses Übernehmen und Glauben vom Fragen? Das Fragen ist etwas vom Glauben und Reproduzieren von bereits Vorhandenem gänzlich unterschiedliches. Im Fragen öffnet sich für uns das Leben, das Universum und der ganze Rest auf ganz andere Weise als durch die Annahme einer von Gott geschaffenen Natur. Es sind nicht die Antworten, die uns weiter bringen, sondern die Fragen. Und warum „weiter bringen“? – Das Fragen ist eine Bewegung. Wenn wir fragen, bewegen wir uns weg von Gewissheiten und Gewohnheiten und begeben uns ins Ungewisse, Ungewohnte, ja auch ins Unheimliche. Gewöhnlich haben die meisten Menschen Angst vor dem Tod, denn der Tod ist etwas Unheimliches und wir haben keine Ahnung davon, was hinter ihm liegt, so denn etwas Überhaupt hinter ihm liegen kann. Aber wenn wir anfangen den Tod zu befragen, verändert er sich mindestens auf seiner Vorderseite, auf der unserem Leben zugewandten Seite. Wer den Sinn des Lebens zu nennen vermag, wer ihn „hat“, bleibt womöglich stehen, denn er hört auf zu fragen. Man könnte aber auch dahin gehen, den Sinn des Lebens als etwas Fliessendes, Flüchtiges, Bewegliches zu verstehen und unser Verhältnis dazu wäre nicht ein Fassen und Greifen, sondern ein Lassen und Schweifen. In einem Moment kann der Sinn des Lebens sein, eine grandiose Leistung zu erbringen und im nächsten die Schönheit einer erblühenden Rose zu erleben. Vielleicht werden wir uns darin gewahr, dass der Sinn des Lebens darin liegt, nach dem Sinn des Lebens zu fragen, womit wir wieder bei meiner oben aufgestellten Behauptung wären: beim Lebenssinn.
Machen wir die Gegenprobe! Es kommt nicht selten vor, dass man bei der Frage nach dem Sinn des Lebens keine oder eine negative Antwort erzeugt. „Alles ist sinnlos!“ und dann springt jemand vor den Zug oder schiesst sich in den Kopf. Das Problem dabei ist nicht, dass das Leben keinen Sinn hat, sondern eben gerade das Umgekehrte. Wir können, weil wir über den Lebenssinn verfügen, dem Leben einen Sinn geben oder eben keinen. Das liegt in der ausserordentlichen Fähigkeit des Menschen – er kann eine Sache, einen Zusammenhang oder eine Abfolge als sinnvoll oder als sinnlos deuten – und daraus Handlungen ableiten. Wenn wir also unser Leben als sinnlos betrachten und uns deswegen umbringen, dann war das der Lebenssinn, der diese Erkenntnis erzeugte. Der Lebensinn ermöglicht uns eben nicht nur die positive Erkenntnis des Sinns des Lebens, sondern auch die Negation, also eine Erkenntnis von Sinnlosigkeit. Wir kennen das Urteil, das wir Überlebenden fällen: der Selbstmörder unterlag einer Täuschung des Lebenssinns, so wie wir uns täuschen können über Sicht- oder Hörbares! Die Täuschung liegt darin im Nicht-Sein, also im Nichts, in das wir mit dem Tod fallen, etwas zu erkennen, das Sinn macht: wir begehen Selbstmord, weil wir glauben, damit der Sinnlosigkeit des Lebens zu entkommen; das ist aber ein Fehlschluss, eine Täuschung, denn der Tod gibt dem Leben keinen Sinn. Nur das selbstbewusste Leben kennt Sinn und Unsinn. Deswegen können wir den Selbstmörder entlasten, auch wenn uns das wegen der Schmerzen, die er uns Überlebenden zufügt, schwerfällt. Der Lebenssinn ist der Sinn unserer Sinne, der zwischen Sinn und Unsinn von Sachen, Zusammenhängen oder Abfolgen urteilen kann. Es bleibt lediglich der Vorbehalt, dass der Selbstmörder die Entscheidung zum Freitod aus dem Schluss der Sinnlosigkeit des Lebens den Irrtum einer lebenssinnlichen Täuschung apodiktisch ausschliesst. Diese Apodiktik beurteilen wir allerdings als problematisch, bzw. als grundsätzlich irrtümlich, weil es keine Wahrheit gibt, die nicht hinterfragt werden kann und hinterfragt werden soll. (Das begründen wir nicht weiter, weil das hier zu weit führt.)

Um auf den Anfang zurück zu kommen: Als Lehrer betrachte ich es als meine Aufgabe meine Schüler fürs Fragen zu öffnen, ihnen Verfahren und Wege zu zeigen, eigene Antworten und neue Fragen zu finden; als Philosoph untersuche ich die Bedingungen unter denen wir überhaupt fragen und antworten können und als Mensch in besonderer Lage gebe ich nur ein Exempel dafür, wie wir alle vor dem Tod stehen: staunend und etwas neugierig angesichts der grossen Ungewissheit, denn der Tod ist eine Frage ohne Antwort.

#Stichwort: Auswanderung – Einwanderung

Sie geben mir das Begriffspaar ‚Einwanderung – Auswanderung‘ als Stichwort für einen philosophischen Blog. Das ist eine ungewöhnliche Aufgabe. Wir verbinden mit dem Phänomen der Migration ja vor allem politische, wirtschaftliche und soziale Aspekte, weit weniger die Frage von Wahrheit. Aber klar: das politische, wirtschaftliche und soziale Feld wird in der Tat ideologisch bearbeitet, gepflügt gewissermassen, um darin die ideologische Saat aufgehen zu lassen. Lange dachte ich, dass es vor allem nationalistische Populisten seien, die sich dieses Themas bedienten, aber schauen wir genauer hin! Wo Kräfte wirken, wirken Gegenkräfte; wo Macht aufgebaut wird, entsteht naturgemäss Gegenmacht. Das ist eine physikalische und eine psychische Wirkungsweise. Ohne Gegenkraft verliert sich die Kraft, ohne zu unterdrückendes Subjekt erübrigt sich der Unterdrücker. Nun können wir fragen: entstand zuerst der ideologische Druck gegen die Migration oder drückte die Migration die im Nationalismus gebundenen Kräfte so, dass sie sich neu formierten? Eine solche Analyse sprengte diesen Rahmen, aber die Frage sei gestellt.
Das Begriffspaar ist – im Gegensatz zum – scheinbar – überideologischen Begriff der Migration – gebunden an das Faktum von Grenzen. Ein-wandern und aus-wandern kann man nur in Bezug auf ein Behältnis, das ein Ein und Aus zulässt. Bei etwas Offenem, Unbegrenztem spricht man nicht von Ein- oder Auswandern. Die Grenze begrenzt, was wir in klassischer politischer Lehre als Staat bezeichnen, welcher sich definiert durch das Staatsgebiet, das Staatsvolk und die Staatsverfassung. Nur ein Gebilde, das ein umgrenztes Gebiet hat und dessen Bewohner sich eine auf dieses Gebiet bezogene Verfassung gegeben haben, gilt als Staat im völkerrechtlichen Sinne. Darüber hinaus braucht dieses Gebilde zusätzlich die formelle Anerkennung anderer, bereits anerkannter Staaten. So weit so gut. Einwanderung und Auswanderung findet dann also statt, wenn eine solche Staatsgrenze überschritten wird, zum Zwecke, dass die wandernden Subjekte sich dies- oder jenseits solcher Grenzen dauerhaft niederlassen. Hier taucht ein erstes – auch philosophisches – Problem auf, das begrifflich erschlossen werden kann. ‚Wanderung‘ ist die Bezeichnung einer Bewegung, eines Prozesses, wo ein Wesen sich bewegt und nämlich nicht unwillkürlich, sondern gerichtet. Sprechen wir von Einwanderung, dann entsteht aber – unwillkürlich – ein Widerspruch: durch das Ein-Wandern kommt diese Bewegung im Innern des Behältnisses zu einem Stillstand. Die Bewegung des Wanderns endet mit dem Einwandern im Bereich, wohin eingewandert wurde. Beim Auswandern ist es umgekehrt: Das Auswandern bezeichnet eine in der Ruhe des Hierseins beginnende Bewegung ins Hinaus zu etwas ausserhalb des Hiesigen, wobei ein Ziel nicht zwingend klar gegeben sein muss. Diese gegensätzlichen Bewegungen müssen wir zunächst getrennt untersuchen.
Einwandern: Das Subjet, das einwandert, überschreitet die Grenze zu dem Zielraum seiner Einwanderung. Der Zielraum ist das Staatsgebiet. Das ist die physische Realität. Schwieriger wird es, wenn man die soziale und politische Realität unter die Lupe nimmt. In der Tat kann eine physische Einwanderung stattfinden, ohne dass eine soziale und eine politische Einwanderung erfolgt und hier liegt das Problem der Spannung. Die sozialen und politischen Grenzen, die das Staatsvolk mit seiner Staatsverfassung konstituiert, sind weitaus komplexere Grenzen, als die geografischen, die mittels Zäunen und Mauern befestigt werden können. Die politischen Grenzen sind meist leichter zu überwinden als die sozialen. Das Wesen der sozialen Grenzen liegt in der Komplexität des Begriffs des Staatsvolks. Gemeinhin ist die Sprache der äussere Wall, dann kommen sichtbare und unsichtbare Differenzen in der Erscheinung, der Mimik, Gestik, des Verhaltens, kurz der gesamten kulturellen Mentalität. In dieser kulturellen Mentalität liegt gewöhnlich auch der Schlüssel zur Integration der eingewanderten Subjekte. Von den Meinungsmachern wird die Integration als eine eingeforderte Leistung und Leistungsbereitschaft der Einwanderer definiert. In Wahrheit ist das eine wechselseitige Konstellation. Die Kultur des Staatsvolks muss eine Integration der Einwanderer ebenso sehr wollen und vermögen, wie die Einwanderer eine solche wollen und vermögen können müssen. Dieses Wollen und Vermögen des Staatsvolks Einwanderer in seinen Volkskörper zu integrieren, ist wesentlich abhängig von den Ressourcen. Ein kleines, sozial dichtes, ressourcenarmes Land wie die Schweiz hat naturgemäss eine hohe Integrationsschwelle, während grosse Räume eigentlich niedrigere Integrationsschwellen haben müssten. Aber daraus lassen sich keine soziologischen und politischen Schlüsse ziehen, dann in der beobachteten Wirklichkeit spielen weit mehr Faktoren mit. Die Schwierigkeit – im philosophischen Sinne – liegt in der zur Ruhe kommenden Dynamik. Wer einwandert, kommt aus einer Bewegung zu einem Ziel und erwartet dort das Ende seiner Bewegung, eine Ruhe, eine Beruhigung. Vielleicht fällt es älteren Menschen leichter einzuwandern als jüngeren, während jüngere Menschen leichter auswandern.
Auswandern: Das ist eine Bewegung, die von einem Raum, meist als Heimat bezeichnet, in einen für den Auswandernden offenen Raum führt. Er mag ein Ziel haben, doch dieses Ziel ist naturgemäss nicht das Ende einer Bewegung, einer Dynamik, sondern eine grosse Ungewissheit, die Erwartung von Neuem, von Veränderung, etwas Dynamisches. Auswandern ist in unserer mitteleuropäisch verfassten Kulturgeschichte eher positiv konotiert. Es liegt eine romantische, eine abenteuerliche, auch eine heldenhafte Note darin. Man bedenke, dass die Säulen unserer Kultur, die Griechen, ihre Kultur ganz wesentlich aufs Auswandern in neue Räume gründeten, während sie umgekehrt Einwanderer recht strikte am Rande ihrer Gemeinschaften hielten, sie nur zurückhaltend, wenn überhaupt integrierten. Die helvetische und die athenische Demokratie haben hier durchaus Ähnlichkeiten in ihrer Exklusivität. Umgekehrt verhielten sich die Römer, die ihre Expansion kompensierten mit Integration. Die Römer sind nicht ausgewandert, sondern haben die „Einwanderer“, mithin die von ihnen eroberten Völker, verhältnismässig schnell und grosszügig assimiliert. Die römische Kultur ist daher eher vergleichbar mit der europäischen Union, die bis vor kurzem Einwanderer im Prinzip niederschweflig integrierte. Damit gleiten wir aber schon ab ins Soziologische, Historische und Politische.
Philosophisch interessant und weiter zu bedenken ist die gemischte Psyche des Auswanderers, der im neuen Raum ein Einwanderer ist, bzw. des Einwanderers, der in Bezug auf seine Herkunft ein Auswanderer war. Die widerstreitende Bewegungsform – Aus- und Einwandern – konfligiert im wandernden Subjekt und emergiert zusätzlich als die ins Innerpsychische verlegte Grenze, die den geografischen, sozialen und politischen Aussenraum auch nach innen, in die innere Erfahrung des Subjekts verlegt. Diese innere Spannung überträgt sich unschwer auf das Umfeld und ist, neben allen anderen Aspekten, den wirtschaftlichen, den sozialen und den politischen, die Problematik des Phänomens.

#Stichwort: Medien

Konfrontiert mit einem Stichwort, das so allgemein und so spezifisch ist, wie „die Medien“ greift der Philosoph zunächst zum ‚Wörterbuch der historischen Begriffe der Philosophie‘ und findet unter ‚Medien, Medium‘ – nichts. Das ist überraschend. Und auch wieder nicht. In der Zeit, als die für dieses Wörterbuch relevanten Begriffe gesetzt und gesammelt wurden, also in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, unterschied man noch zwischen Zeitungen, Radio und Fernsehen. Es waren gerade drei charakteristische Kanäle, die Öffentlichkeit konstruierten. Diese technische Unterscheidung, die auch eine wesentliche, also eine dem Wesen nachgehende, bzw. vorausgehende Unterscheidung war, ist heute höchstens noch als phänomenologische Gedankenspielerei von Bedeutung, aber nicht mehr in der kritischen Analyse des damit gemeinten Gegenstands. Doch hier wird es bereits schwierig, denn was ist der Gegenstand der Medien? Was meinen wir, wenn wir dieses Wort verwenden? Manchmal meinen wir einen ganz bestimmten Kanal, ein einzelnes unter einem bestimmten Namen firmierendes Medium wie zum Beispiel das Schweizer Fernsehen oder die ‚Washington Post‘. Ein anderes Mal meinen wir alle Formen von redigierter Einbahnkommunikation: also alles, was von Einzelnen oder wenigen in konkreter und professioneller Absicht an viele über einen Medienkanal publiziert wird und ein weiteres Mal fassen wir schlicht alles darunter, was irgendwie technisch Informationen transportiert, also vom klassischen Brief bis zum interaktiven Video mit VR- oder AR-Anbindung, inklusive der entsprechenden Geräte und den dahinter funktionierenden Technologien.
Nun muss man fragen: kann man überhaupt und in philosophischer Hinsicht über Medien sinnvolle Aussagen formulieren, wenn der Begriff so unbestimmt ist? Man kann. Aber nur, wenn man mit einer Methode arbeitet, die es erlaubt, sich einem Begriff zu nähern, der zunächst nur ein Begriff für ein ganzes Feld, ein Netzwerk von Bedeutungen und Zusammenhängen ist, mithin etwas Bewegliches, sich Bewegendes.
Zunächst sammeln wir Enthaltenes, das wir mit-meinen, wenn wir von ‚Medien’ sprechen: Töne, Stimmen, Bilder, Filme, Texte, Kontexte, Information, Manipulation, Kommunikation, Geräte, Programme, Funktionen, Technologien, Medienhäuser, Kanäle, Wirkungen, Reaktionen, Neuigkeiten, Hintergründe, Ereignisse, und irgendwann auch: Fakten, Wirklichkeit, Wahrheit und entsprechend Meinung, Schein, Verschleierung, Lüge, schliesslich Macht. Fällt Ihnen etwas auf? Ich habe Menschen nicht erwähnt in dieser Aufzählung, obwohl ja Menschen Medien machen: Verleger, Journalisten, Reporter, Texter, Werber, Zuhörer, Zuschauer, Leser, Konsumenten usw. Aber die Menschen liste ich nicht auf, denn das Wort ‚Medium‘ heisst: ‚dazwischen‘. Die Medien sind zwischen uns Menschen und auch zwischen denjenigen, die die Medien machen, denn sie selbst sind nicht das Medium und vielleicht ist ihr Machen mehr ein Produzieren – im lateinischen Wortsinn des Auf-die-Bühne- oder des In-den-Zirkus-Bringens (und der Circus maximus ist in römischer Zeit die grösste anzunehmende Öffentlichkeit).
Das Medium, das „Dazwischen“ also, konstituiert Funktionen, man könnte auch sagen: programmiert Rollen, als Akteure, als Regisseure, als Techniker, als Publikum, usw. Das Zusammenspiel der Funktionen um Ereignisse erzeugt das mediale Drama. Literarisch hatte Heinrich Böll mit seiner sehr bekannten Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ der schäbigen Wirklichkeit dieses „Spiels“ ein Denkmal gesetzt, das kaum an Aktualität eingebüsst hat. Die einzige Korrektur, der es bedürfte, ist, dass heute alles noch um einiges komplexer ist. Aber die Grundstrukturen bleiben erhalten. Was aber sind diese Grundstrukturen, die – wenn wir das philosophisch angehen – einzig interessieren?
Das Mediale ist systemisch zu begreifen. Das Mediale entwickelte sich ursprünglich stets um das Ereignis herum. Etwas geschieht. Das Geschehene wird berichtet und damit setzt sich der Prozess des Medialen in Gang. Früher ging das von Mund zu Ohr zu Mund, dann kamen Schriften hinzu, heute sind es multimediale Komplexe. Immer noch braucht es das Ereignis, um das sich wie Wellen ausbreitende System des Medialen in Gang zu setzen. Allerdings kann ein Ereignis völlig unbedeutend sein, und es gibt trotzdem eine massive Bewegung, oder das Ereignis kann schwerwiegend sein, aber es bewegt sich kaum etwas. Darüber, warum das eine oder das andere als mediales Ereignis auf ein reales Ereignis folgt, eine grosse oder eine kleine Welle oder gar keine, darüber gibt es keine bessere als die Chaos-Theorie. Die Kräfte, die die nicht lineare Dynamik in Bewegung setzen, sind meist die Gier nach Geld, nach Macht, oder verletzter Stolz und Ressentiment, während die dynamischen Kräfte, die chaotischen Verstärker der Sensationshunger, die Häme, die Schadenfreude des Publikums sind.
Am Anfang steht das Ereignis. Es wird von einem Zeugen berichtet. Dieser Bericht selbst kann noch vor-medial sein, oder er kann schon medialen Charakter annehmen, weil der Zeuge durch das Berichten für sich selbst Bedeutung und Anerkennung zu erhalten hofft. Das berichtete Ereignis affiziert die Zuhörer des Berichts und dieser Affekt springt als Zuwendung, als Anerkennung auf den Berichterstatter über. Dieser Grundzusammenhang ist elementar. Und hier setzt nun bereits das Problem der Wahrheit ein. Ein Ereignis, dessen Zeuge ich bin, erlebe ich aus einer bestimmten Perspektive und er-zeugt in mir eine entsprechende Wirklichkeit, die ich als Wahrheit nehme. Selbst wenn ich alles, was ich gesehen, so wiedergebe, wie ich es wahrgenommen habe, wird ein anderer Zeuge eine andere Perspektive haben und dasselbe Ereignis anders wahrnehmen. Das weiss die Polizei und das weiss der Journalist – beide sind – im Prinzip – der Wahrheit verpflichtet, aber diese Wahrheit ist bereits eine synthetische Wahrheit, die sich aus zusammengesetzten Zeugnissen ergibt. Hier entsteht die mediale Wirklichkeit als bedeutungsgeladenes Konglomerat aus Zeugnissen von Zeugen. Aus dem Ereignis – und wenn wir genau auf das Wort hinhören, hören wir den althochdeutschen Wortstamm des Eräugens, also des Sehens von Etwas heraus – und hören wir noch etwas genauer, hören wir: Zeugnis – „Eräugnis“ – und bemerken die Ähnlichkeit – wird etwas anderes: es wird zu einem Gegenstand der Kommunikation, etwas, das zwischen uns ist, eine Bedeutung von etwas, das gar nicht mehr ist, denn das Wesen des Ereignisses ist, im Moment, wo es zum kommunikativen Gegenstand wird, bereits – nicht mehr zu sein. Die Medien sind Ereignis des Vorübergegangenen, des zurückliegenden Ereignisses, eine Art Gegenwart der Vergangenheit.
Das grundlegende philosophische Problem im Medialen ist die zweifache und gegeneinander widersprüchliche Verfassung der Wahrheit. Das Zeugnis des Ereignisses ist die individuelle (also unteilbare) Wahrheit des Zeugen. Nun berichtet er mehreren. Dadurch wird das Ereignis transformiert in einen dramatischen, kommunikativen Kontext, in einem Bedeutungszusammenhang und dort erlangt die Wahrheit des Ereignisses eine andere Verfassung, denn diese Wahrheit ist diejenige, die von denen, die das Ereignis medial verarbeiten und jenen, die das konsumieren, verfasst. Das gilt auch dann, wenn die Geschichte über das Ereignis manipuliert wird.
Nehmen wir folgendes Ereignis als Beispiel:
A tötet B und C sieht zu. B ist also tot. A und C sind Zeugen des Ereignisses dieses Mords, A als Mörder-Zeuge, C als Publikum-Zeuge. As Geschichte wird ganz anders zu hören sein, als Cs Geschichte. Beide berichten nun D und E. D und E hören die Geschichten jeweils anders, weil das Ereignis bereits vorüber, bereits eine Geschichte ist. Nehmen wir nun an, A besteche C und biete ihm viel Geld, um seine Geschichte an die Geschichte As anzupassen. C wird fortan etwas anderes erzählen, als was er D und E erzählte. Nun entwickeln sich Varianten des medialen Ereignisses. F bemerkt diese unterschiedlichen Varianten. Nun fragt sich F, was wahr sei. Er möchte also das Anfangsereignis mit den Varianten abgleichen. Aber das Anfangsereignis besteht aus den zwei Perspektiven. Im Idealfall kann er die ursprünglichen Erzählungen von A und C rekonstruieren. Wahrscheinlicher aber ist, dass sich die Geschichten dadurch, dass er nach der Wahrheit sucht, verändern, multiplizieren. Er wird selbst dann nicht mehr sicher sein, ob die ursprünglichen Erzählungen von A und C der Wahrheit entsprechen. Alles nun, was vom Moment an, als A und C D und E ihre Geschichten erzählen, ist medial. Wir sehen an diesem theoretischen Beispiel umgehend, wie sich die Wahrheit von A und C von der medialen Wahrheit unterscheiden. Nun geschieht noch etwas: Durch die Ausbreitung des dynamischen Feldes des medialen Ereignisses verändern sich auch die Erinnerungen von A und C. Sie werden von diesen Wellen erfasst und ihre Zeugnisse verändern sich. – Das ist übrigens der Grund für die isolierende Untersuchungshaft. Man versucht die Zeugen vor der unwillkürlichen Veränderung ihrer Erinnerung durch die Ausbreitung des Medialen zu be-„wahren“ (also isolieren). Die unmittelbare Wahrheit des Ereignisses ist im Medialen nicht mehr zu fassen. Daher könnte man nun sagen: kein Wunder, dass im Historischen Wörterbuch der Philosophie der Begriff ‚Medien‘ nicht abgehandelt wird, denn die Wahrheit des medialen Ereignisses ist – gewissermassen – die Lüge! Man kann nun deprimiert sich abwenden und sagen: die Medien lügen. Fake News! Aber damit machen wir es uns zu einfach. Man muss den medialen Begriff der Wahrheit anders fassen, als das Faktische des Ereignisses und akzeptieren, dass das faktische Ereignis zwar der Auslöser war, aber mit den Wirkungen des medialen Ereignisses wenig zu tun hat. Wollen wir – philosophisch – uns mit den Medien auseinandersetzen, müssen wir sie als das sehen, was sie sind und nicht als Ergebnis auslösender Ereignisse. Medien sind die Summe von Kommunikationen, die das konstituieren, was wir die Öffentlichkeit nennen. Sie produzieren erst die Wirklichkeit, die wir Öffentlichkeit nennen. Die Wahrheit dieser Wirklichkeit unterscheidet sich aber von der individuellen Wahrheit. Die Entstehung des Rechts ist dieser Wirklichkeit geschuldet. Das Recht ermittelt (höre: er-mitte-ln – also das fassen, was in der Mitte, also dazwischen ist) die Wahrheit der einzelnen Zeugen eines Ereignisses – das heisst, dass sie gewissermassen aus der Schnittmenge der Zeugnisse eine neue Wirklichkeit als Wahrheit etabliert. Das Perspektivische des Er-Äugnisses wird in die Mitte des öffentlichen Raums gestellt und wird so zum veröffentlichten, also medialen Ereignis. Natürlich ist nun dieses In-der-Mitte-stehen wiederum in der Erfahrung der Einzelnen perspektivisch. Ich sehe zwar in diese Mitte, aber von meinem Standpunkt aus. Aus diesem Grund sitzt der Richter erhöht, um einen „weniger“ perspektivischen, sondern einen mehr „göttlichen“ Gesichtspunkt einnehmen zu können. Im Unterschied nun zur gerichtlich ermittelten Wahrheit eines Ereignisses ist das mediale Ereignis die angenommene Perspektive von ganzen Gruppen. Medien erzählen uns die perspektivische Wahrheits-Wahrnehmung vorübergegangener Ereignisse von Gruppen, indem sie diese öffentliche Wahrheit aus dem medialen Kommunikationsprozess konstruieren.
Erinnern wir uns kurz an Noah Yuval Hararis drei Beschreibungen unserer Gattung: 1. Flexibilität, 2. Die Fähigkeit abstrakte Wirklichkeiten zu imaginieren und zu kommunizieren (Stories: Geld, Gerechtigkeit, Staat, etc.) und 3. Koopartionsfähigkeit in sehr grossen Gruppen.
Die letzten zwei sind auch die Ermöglichungsbedingungen der Medien und – gewissermassen – umgekehrt. Nun sind diese (die Medien) aber kulturgeschichtlich – sofern wir sie modern verstehen – recht jung. Natürlich war der Circus maximus eine Medienmaschine ohne gleichen, aber nicht vergleichbar mit der Wirkung der Erfindung der Druckverfahren durch Gutenberg. Die schnelle Verbreitung gedruckter Zeitungen und Bücher hat erst vor gut 500 Jahren eine abstrakte Öffentlichkeit geschaffen, die Emotionen und Wissen jenseits von konkreten Räumen multiplizierte und potenzierte. Um das, was wir die Medien nennen, sinnvoll zu denken und zu beschreiben, müssen wir womöglich die Philosophie der Geschichte radikalisieren: wenn wir von einem neuen Zeitalter sprechen, dann stehen wir an der Wende nicht in der Grössenordnung von Jahrzehnten oder Jahrhunderten, sondern von Jahrtausenden. Darin wären ‚die Medien’ das Nervensystem eines entstehenden superhumanen Organismus.

# Stichwort: Sexualität

 

Was ist das für ein Wort: Sexualität? Ist es, wo es doch etwas bezeichnet, was uns im Innersten betrifft, in unserer elementaren Lebendigkeit affiziert, ein seltsam spröder Begriff! Hören wir ‚Sexualität‘, denken wir doch sofort an Intimstes und dieses Affiziertwerden passt aber schlecht zu diesem Begriff, der so unscharf ist wie Religion oder Nation. Eigentlich ist das Wort ‚Sexualität‘ überhaupt nicht „sexy“ – wir erkennen unschwer seine Herkunft aus dem klinischen Kontext – es ist ein klinischer Begriff. In der Tat finden wir in der Geschichte der Philosophie auch nicht so viele Titel mit diesem Wort. Erst in den letzten Jahrzehnten schwappte eine Woge an Texten, Kongressen und öffentlichen Debatten vor allem in Amerika über das Bewusstsein der Gegenwart und hält mit der Gender-Thematik das politische Denken besetzt. Mit einer zungenbrechersichen Buchstabenfolge wird heute identitätsgeleitete Politik und Wissenschaftspolitik betrieben – teilweise notwendig, teilweise irreführend. Philosophisch müssen wir hier zuerst einmal etwas Ordnung machen:
Die Geschlechtlichkeit ist keine adäquate Übersetzung des allgemeinen Begriffs der Sexualität, obwohl es die naheliegendste ist. Denn das deutsche Wort ‚Geschlecht‘ ist beiderlei: Identifizierung der wesentlichen und primären Weise unseres Daseins zunächst, sei es als Frau oder als Mann und als solche sind wir – aus-gezeichnet – mit den Geschlechtsteilen – oder als dazwischen Unbestimmtes oder Verfügtes oder im Nachhinein als Differenz zu Verfügtem oder Gegebenem Gewähltes, aber dennoch wesentlich ursprünglich in der problematisierten Differenz zum Geschlechtsteil. Die Behauptung, das Geschlecht sei eine soziale Konstruktion, bleibt dabei zunächst einmal so sehr eine Behauptung, wie die Behauptung der Existenz Gottes. Wir haben keine Möglichkeit, hinter die Gegebenheit des Geschlechts, also hinter die „Konstruktion“ zu denken – immer schon sind wir im Geschlecht und: in zweiter, ebenso ursprünglicher Bedeutung sind wir in der Herkunft auch immer Angehörige eines Geschlechts im Sinne der Herkunfts- oder Stammfamilie, selbst dann, wenn wir adoptiert sind. Die Geschichte der Literatur ist davon reich an Erzählungen. Hier wäre lange weiter zu denken entlang der Etymologien und kulturellen Unterschiede, zum Beispiel zwischen der französischen und der deutschen Sprache und weiter zurück zur lateinischen oder gar griechischen Fassung des Problems. Bemerkenswert immerhin: Es gibt den Mann und es gibt die Frau und das Geschlecht ist – grammatikalisch zumindest – ein Neutrum. (Bei solchen Feststellungen kommt mir Heideggers flapsige Bemerkung in den Sinn, wonach der mit dem Denken beginnende Franzose Deutsch lerne.) Immerhin sehen wir, welche Auswege der unscharfe Begriff bietet: er sammelt Bedeutungen.

Das Begehren ist ein zentraler Aspekt der Sexualität, aber füllt den Begriff nicht aus.

Die Erotik ist etwas anderes als Sexualität, aber die beiden Begriffe hängen zusammen.

Die Lust ist durchaus ein philosophischer Begriff, der auch eine Brücke zwischen Begehren und Erotik bildet. Vielleicht ist der Begriff der Sexualität so erfolgreich, weil alles in ihr enthalten ist: die Geschlechtlichkeit und das Geschlecht, das Begehren, die Erotik, die Lust, die Scham, aber auch der Ekel, die Gewalt, die Grausamkeit, die Macht…
Als einer der wenigen grossen und einer der ersten Philosophen setzte Michel Foucault diesen Begriff in den Titel eines seiner Werke, heute ein Schlüsselwerk zum Verständnis unserer Gegenwart: l’histoire de la sexualité ist eben gerade keine Geschichte der Sexualität im Sinne einer berichtenden Erzählung ihrer Formen und ihrer Praxis, sondern vielmehr, bzw. überhaupt eine Analyse über die Genese eines Begriffs und damit eine Erzählung über die Formen des Wissens und der Macht. Und nun hat dieses Werk selbst seine ungeheure Macht entfaltet. Der Diskurs unserer Moderne ist im Grunde das Ergebnis einer Analyse der Diskurse, doch das Wesen einer Sache verbirgt sich gern, sagte uns schon vor sehr langer Zeit Heraklit, und in der diskursiven Erschliessung selbst – Heraklit reloaded – verbirgt sich das Wesen umso mehr.

Eigentlich habe ich schon verworfen, was ich oben schrieb und wollte neu beginnen. Weshalb ich es doch so stehen lasse: Sexualität ist ein überaus geeignetes Wort, um daran eine Methode zu bewähren, die ich in den letzten Jahren zu entwickeln versuche. Phänomenologisch lässt sich der Begriff schwer erschliessen, auch hermeneutisch entgleitet er dem denkenden Zugriff und etymologisch gibt er viel weniger her, als was er heute alles enthält. Mit einem Verfahren, das ich philosophische Szenografie nenne, käme ich gut voran. Weil der Begriff so angefüllt ist mit Bedeutungen und Kontexten, lässt er sich am ehesten begreifen, wie man ein ganzes Theater begreift. Da gibt es ganz unterschiedliche Perspektiven, die zu je verschiedenen Erzählungen, Analysen, Urteilen, bzw. am Ende Wahrheiten führen. Wir können uns als Zuschauer dem Gegenstand widmen, als Akteure, als Regisseure, als Beleuchter, als Dramaturgen, usw. – und dann ist da immer noch das Drama selbst, die Komödie, kurz das Spiel, das sich uns in verschiedener Weise gibt, und stets neu und anders inszeniert werden kann. Wenn wir Sexualität wie ein Theater verstehen, bringen wir in ihrem Begriff unter, was er enthält und können die verschiednen Gehalte sinnvoll ordnen: die Geschlechter und ihre Ordnung, die Erotik, das Begehren, die Lust und selbst die Liebe.

Stichwort: Religion

Ich habe Sie um ein Stichwort für meinen nächsten Blogbeitrag gebeten. Also gut: Religion
Bestimmen wir zunächst die Begrifflichkeit.
Religion kommt vom lateinischen religio. Dieses Wort hat mannigfache Bedeutung. Es kann heissen: Rücksicht, Besorgnis, Bedenken, Gewissensskrupel, Gewissenhaftigkeit, Genauigkeit, Sorgfalt und schliesslich das religiöse Gefühl, die Gottesfurcht und Frömmigkeit.
Unter Religion verstehen wir seit langem das Glaubensbekenntnis, das sich in einer sozialen Ordnung institutionalisiert hat. Bemerkenswert ist nun, dass der Plural, Religionen, voraussetzt, dass eine Pluralität der Glaubensbekenntnisse erkannt und anerkannt wird. Das ist durchaus nicht selbstverständlich, denn der Begriff der Religion hat weder im indischen Sanskrit noch im Arabischen oder Chinesischen entsprechende Wortstämme oder Wortwurzeln. (Das heisst, dass es in diesen Traditionen eigentlich keine Pluralität von Glaubensbekenntnissen, bzw. „Wahrheit“ gibt, sondern nur eine Einzige.)
Wahrscheinlich sind wieder die Griechen schuld, denn durch die Entwicklung der griechischen Philosophie des 5. und 4. Jahrhundert differenzierte sich ein Wahrheitsbegriff des Wissens von einem Wahrheistbegriff des Glaubens. Die griechischen Philosophen begannen systematisch den Glauben zu hinterfragen. Aus heutiger Sicht meinen wir, dass sich das philosophische Denken gegenüber dem Glauben innert relativ kurzer Zeit etablierte. Die Sicht der Dinge hat womöglich wenig mit der seinerzeitigen Wirklichkeit zu tun. Nur der Elite war diese neue Sicht der Dinge überhaupt zugänglich. Nur Eliten konnten sich den Luxus leisten, den Glauben zu hinterfragen.
Es gibt die historische Dimension der Religion, die unerhört wichtig ist, denn in erster Linie sind die Glaubenssysteme verantwortlich für die Struktur von Gesellschaften. Religion ist zuallererst auch eine Weise des Wissens. Das Wissen, das ich aus dem Glauben schöpfe, ist zuerst und zuletzt individuell. Man könnte dieses Wissen auch Gewissheit nennen. Das philosophische Wissen hingegen ist kommunikativ und von daher auch immer bis zu einem gewissen Masse ungewiss. Es entsteht aus der Dialektik und der spezifischen Struktur der Sprache. In diesen beiden Spähren ist auch der Wahrheitsbegriff auf unterschiedliche und eigentlich unvereinbare Weise verfasst. Die religiöse Wahrheit ist grundsätzlich absolut. Die philosophische Wahrheit ist grundsätzlich relativ. Von der Spätantike bis zur Aufklärung machte sowohl die Philosophie, die in dieser langen Phase ihrer Geschichte keine eigene Disziplin sein konnte, als auch die Theologie einen unmöglichen Spagat. Was die Renaissance womöglich für die Kunst bedeutete, nämlich die Emanzipation der Schönheit von der Religion, war die Aufklärung für die Philosophie, nämlich die Emanzipation des Denkens von der Religion.

Religionen heute – das hat etwas von einem riesigen, verwesenden Kadaver, den man nicht übersehen kann, der wegen seiner Zersetzungsprozesse überaus gefährlich, der für die meisten noch gar nicht tot ist, bzw. die Meisten nicht wahrhaben wollen, dass dieses Ding tot ist, wie ein riesiger Wal, der nun als stinkendes Aas auf dem Strand liegt, auf dem man doch viel lieber sich unbeschwert hätte sonnen wollen im Lichte der Aufklärung, als sich vor Ekel die Nase zuhalten und sich abwenden zu müssen, während andere, die ihren Tod negieren, benommen vom giftigen Leichengas über den Strand torkeln und irre Dinge tun. Die Überreste der Religionen in ihren neo-fundamentalistischen Ausprägungen, seien es junge rasierte Christen oder alte, bärtige Moslems, sind ein Problem, im Allgemeinen. Gegen die Gewissheit, die der Gläubige zu haben behauptet, ist die dialektische und dialogisch entwickelte Wahrheit der Philosophie machtlos. Kein religiöser Mensch heute lässt sich noch auf eine logische und analytische Auseinandersetzung über die Existenz Gottes ein, weil er – dank der Philosophie weiss, dass er dagegen machtlos ist. Umso mehr beharrt er gerade auf jenem Prinzip der Individualität (oder platter: der religiösen Identität), das der Aufklärung zu ihrem Sieg verhalf: die Revolution frisst ihre Kinder!
Machen wir uns allerdings nichts vor! Die Wissenschaft, das wissenschaftliche Weltbild, wie es heute von Politikern, von Interessensvertretern und von Wissenschaftlern, die ihre Forschungsgelder beschaffen müssen, vertreten wird, ist der Struktur der Religion vergleichbar. Es sind sehr ähnliche Mechanismen, die die wissenschaftlichen Seilschaften von Hochschulen und dem internationalen Wissenschafts-Establishments bestimmen, wie jene, die einst (und heute noch immer) die Kirche im Besonderen und die Religionssysteme im Allgemeinen zu den kulturbestimmenden Wissenssystemen machen. Die Wissenschaft selbst hat heute den Status einer Grossreligion. Deswegen ist die Philosophie so wichtig, besonders jene zwei Zweige, den wir die Philosophie der Wissenschaft und die Bewusstseins-Philosophie bezeichnen, denn hier liegen die Probleme der sich quasi-religiös gebärdenden Wissenschaften und ihrem totalitären Anspruch offen ausgebreitet. Das ist ihre Achilles-Ferse.