Neulich ging ich durch einen der beiden neuen Teile meines Dorfes, dort, wo in den letzten zwanzig Jahren die grösseren und teureren Einfamilienhäuser gebaut wurden. Es dunkelte bereits. Niemand war zu sehen. Dafür konnte man umso besser die Gärten betrachten. Dabei überkam mich ein grosses Grausen, vor allem angesichts der von einem kleinen Roboter gepflegten Rasenfläche vor einer Villa, die mit rostigen, aus grauem Granitschotter aufragenden Metallplatten begrenzt war. Es steht, wie mit fast allem, schlimm um die Kunst und Kultur der Gärten in unseren Tagen.
Später abends, bei der Katalogisierungsarbeit meiner im Laufe des Lebens nun doch zu beachtlichem Umfang angewachsenen Bibliothek bin ich auf ein Bändchen von Wilhelm Schmid gestossen, das ich im Sommer des Jahres 1991 sorgfältig las: ‚Die Geburt der Philosophie im Garten der Lüste‘. Es handelt von Michel Foucaults ‚Archäologie des platonischen Eros‘. Der Titel inspirierte mich einmal etwas fundierter über Gärten zu schreiben, etwas, das ich schon lange tun wollte. Obwohl es zahlreiche Verbindungen zwischen Philosophie und Gärten gibt, ist mir kaum ein im eigentlichen Sinne philosophischer Text zu diesem Thema bekannt und dies, obwohl ich seit bald 15 Jahren Bücher zur Kultur und Geschichte von Gärten sammle.
Die Philosophie also sei geboren worden im Garten der Lüste, so die Behauptung dieses schönen Titels. Leider wird aber, obwohl der Text einer der besten über Foucault ist, wie ich meine, nirgends erläutert, was denn mit dem ‚Garten der Lüste‘ genau bezeichnet wird. Es ist eine still stehende Metapher, die allerdings allerhand Fantasien beflügelt. Die naheliegende, gewissermassen wörtliche Erläuterung ist: die Suche nach Wahrheit, oder genauer, die Liebe zur Wahrheit wird erstmals erfahren in einem umgrenzten Bereich, worin die Lüste wie Pflanzen gehegt und gezüchtet werden. Das heisst: erst haben Menschen sich um die Gestaltung ihres Verlangens, ihrer lustvollen Sinnlichkeit begeben und dann daraus jene Methoden entwickelt, die ihnen eine Ordnung dessen ermöglichte, wie Wahrheit zu erkennen, zu bestimmen und in ihrem Wesen zu entbergen sei. Gehen wir der Sache auf den Grund!
Zunächst sei rein phänomenologisch zu bestimmen, was ein Garten ist. Dann stellen wir die Verbindung her zwischen dem Wesen des Gartens und seiner Geschichte. Diese bildet die Brücke zur Philosophie. Wir beschliessen den Gedankengang mit einer Kritik an unserer gegenwärtigen Gartenkultur.
Was ist ein Garten? Die etymologischen Wurzeln sind eng miteinander verschlungen. Aus dem Indogermanischen kommt das Wort von ‚gerte‘ her, verwandt mit dem lateinischen hortus. Cart(o) heisst daselbst auch Schutz. Gerten sind heute noch Haselnussruten. Diese kann man zu einem Zaun verflechten. Im Niederländischen ist ‚tuin‘ ein Garten. Im Gotischen ist ein ‚garde‘ ein Gehege oder Pferch. Im Englischen ist ein ‚yard‘ ein Hof, in Skandinavien heisst dasselbe ‚gaard‘. Das althochdeutsche Wort ‚gadam‘ bedeutet Raum, Gemach, aber auch Scheune.
Heute bezeichnen wir als Garten oft lediglich jenen ein Haus umlaufenden Streifen aus Pflanzen und Steinen, begrenzt von einem Zaun.
Aber das Wort hat die grösste Tiefe dessen, was wir als Menschen an uns selbst geschichtlich begreifen. Der Mythos lässt uns gar darin erst werden, was wir sind, im Garten Eden, am Nil, in den heiligen Hainen der griechischen Götter, im Elysium, sodann im persischen Paradies, in den philosophischen Schulen Athens, die Gärten waren: Akademos (Platons Schule), Lykaion (Schule des Aristoteles) und Epikurs Kepos’ (was soviel wie Garten heisst) und zuletzt im Garten Getsemani. Im hochentwickelten Osten und Süden der Antike, in Persien und Ägypten wurden schon früh verschiedene Arten von Gärten erschaffen: Lustgärten und Obst- und Küchengärten, Gärten mit Tieren und Gärten für Götter, hängende und schwimmende Gärten.
Aber was ist ein Garten philosophisch – wenn der Mensch darin das wird, was zu sein ihm bestimmt ist? dort liegt, woher er kommt und wohin es ihn zieht?
Der Garten ist ein umgrenzter Ort. Draussen ist die Welt, die wilde Natur. Innerhalb des Gartens ist auch Natur, aber Natur, der der Mensch seinen Gestaltungswillen, seinen Sinn für Schönheit, seine Vorstellungen von Heimat, Sicherheit, Friede aufgeprägt oder eingeschrieben hat. Die Natur fügt sich dieser Gestaltung allerdings nur so lange, wie der Gärtner sich um seinen Garten sorgt und ihn pflegt.
In dem Aufsatz (zuerst ein Vortrag im Rahmen des ‚Darmstädter Gesprächs‘ über ‚Mensch und Raum‘ vom 5. August 1951) ‚Bauen – Wohnen – Denken‘ entwickelt Martin Heidegger (Vgl. Ders. Bauen – Wohnen – Denken. In: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1985. S. 139ff.) denkerisch aus ihrer Etymologie die Begriffe des Bauens und Wohnens als wesensmässig für den Menschen: “Die Art, wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist das Buan, das Wohnen“. Das althochdeutsche ‚buan‘ enthält das (ich) ‚bin‘, bzw. umgekehrt geht aus dem ‚buan‘ das Bauen als Begriff hervor. Er legt also das Bauen in das Wohnen und beides ist die Weise, wie wir – als Menschen – auf der Erde sind. So stellt Heidegger fest:
1. Bauen ist eigentlich Wohnen.
2. Das Wohnen ist die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind.
3. Das Bauen als Wohnen entfaltet sich zum Bauen, das pflegt, nämlich das Wachstum, – und zum Bauen, das Bauten errichtet.
Nun bedenkt er dieses Dreifache weiter und gelangt dadurch, dass er die Etymologie von ‚Wohnen‘ untersucht dazu, dieses als ein Bleiben zu nennen: „Wunian heisst: zufrieden sein, zum Frieden gebracht, in ihm bleiben. Das Wort meint das Freie, das Frye, und Fry bedeutet: bewahrt vor Schaden und Bedrohung, bewahrt – vor… d.h. geschont.(…) Das eigentliche Schonen ist etwas Positives und geschieht dann, wenn (…) wir etwas eigens in sein Wesen zurückbergen, es entsprechend dem Wort freien: einfrieden.“
Der Garten ist ein bebautes, umfriedetes Stück Land und grenzt ein anderes umfriedetes Stück Land an das Unsrige, dann sprechen wir vom Garten des Nachbars. Der Nachbar ist derjenige, der nächst zu meinem Garten einen Garten gebaut hat – er ist mein ‚Nachgebur‘ oder ‚Nachgebauer‘, also der in der Nähe wohnt. Heidegger nennt nun diesen bebauten Grund das Geviert, denn zunächst sind wir als Wohnende, also Daseiende(1) auf der Erde (2). Die Erde ist immer schon unter dem Himmel(3). Der Himmel aber ist, wo die Götter sind(4). Dieses Viereck: Menschen – Erde – Himmel – Götter ist, was wir bewohnen, bzw. worin wir ‚Gewohnt’ sind. Vor sehr langer Zeit, als ich gerade Heideggers ‚Sein und Zeit‘ studierte, verbrachte ich einige Wochen in einem grossen Haus mit einem kargen Garten inmitten der Stricklawa im Osten der Insel El Hierro. Dort verfasste ich, inspiriert von diesem Gedankengang Heideggers das folgende Gedicht:
Götter – Menschen – Himmel – Erde
Im Geviert wandelt das Andenken
eines anderen Seins.
Zwischen dem Leichten
und dem Schweren
pendelt das Auge
und sein Sehen
ins Künftige.
Wenn das Licht sich bricht
an dunklen Wolken
und an der scharfen Kante
des Gebirgs
fächern sich Farben zum Spiel von Gestalten
einer fernen mit den Wogen
am Gestade sich brechenden Zeit.
Was hier in Heideggerischer Manier sprachlich etwas sperrig daher kommt, lässt sich auch eleganter formulieren, was dem einst von Mussolini begeisterten, später aber von den Nazis verfolgten, auf der Flucht ums Leben gekommenen Rudolf Borchardt in seinem Büchlein ‚Der leidenschaftliche Gärtner‘ – einem der schönsten Textsammlungen über Blumen, Gärten und ihre Menschen – vortrefflich gelang, zum Beispiel so: „Denn der Garten war, und ist immer noch, die räumliche Anlage, in welcher der Mensch seine Beziehung zur Natur als Struktur niederlegt.“ (Rudolf Borchardt. Der leidenschaftliche Gärtner. Berlin 2016 – erstmals 1951 postum erschienen, S. 34) Diese Feststellung, meine ich, ist weit treffender, als jede Antwort auf die Frage sein könnte, ob denn der Garten zur Sphäre der Natur oder zur Spähre der Kunst gehöre. Entlang dieser etwas müssigen Unterscheidung entwickelt der einzige mir bekannte, ausschliesslich auf die Philosophie des Gartens bezogene Text von David E. Cooper, ‚A Philosophy of Gardens‘ seine Argumentation. Wir fragen aber noch einmal: was also ist ein Garten? mit Heidegger sagen wir: das Geviert. Aber sind seine Nomen gut gewählt? Mensch, Erde, Himmel, Götter?
Mir liegen folgende näher: Mensch, Welt, Natur und Geist. Der Garten ist das Mittlere zwischen diesen Vieren: der Schnittpunkt zwischen Mensch und Welt, Natur und Geist. Der Garten liegt in der Welt, aber er schliesst diese aus, obwohl sie ihn umschliesst. Steht der Mensch in seinem Garten, dann ist er zugleich bei sich wie er auch in der Welt ist. Dadurch, dass er einen Garten anlegt und pflegt, verhält sich der Mensch zur Welt wie zu sich selbst. Es ist in seinem Wesen, Gärtner zu sein. Der Garten ist auch der Schnittpunkt zwischen Natur und Geist, insofern der Mensch beides ist: Natur und Geist. Als Gärtner gestaltet er die Natur, die ihm gedeiht, ihm schmeichelt, sich ihm entzieht und widerstrebt. Er legt eine Ordnung an. Das ist, was der Geist tut: Strukturen und Muster anlegen. Im Garten kommen beide Substanzen zusammen, die Materie und die Ordnung. Die Philosophie des Gartens nun ist die Erkenntnis, die sich daraus ergibt. Erkennt der Mensch sich selbst, als ordnendes, strukturbildendes Lebewesen, erkennt er sich in der Dualität seiner Humanität in der Welt. Anders als in der dialektischen Bewegung, verhält es sich in der Szenographie des Gartens, die keine Hysterie des Fortschritts erzeugt, sondern die Kontemplation des Denkens pflegt. Deswegen steht der Garten am Ursprung des Guten: der Kunst, der Dichtung, der Philosophie, der Humanität, der Verantwortung, des Friedens, der Umsicht und der Sorge.
Aber es steht schlimm um das Wesen der Gärten in unserer Zeit. Und der Grund hierfür glaube ich gerade darin auszumachen: in der Zeit. Es gibt ein sehr vernünftiges Buch mit reichem und sprechendem Bildmaterial, dessen Titel lautet: Zeit für Gärten, verfasst und zusammengestellt von Eeva und Ulrich Ruoff. Die beiden Zürcher, er ehemals Stadtarchäologie, sie Dozentin für Landschaftsarchitektur zeigen auf, was Sorgfalt im Umgang auch mit den kleinsten und unscheinbarsten Grünflächen bewirken, aber ebenso, welchen Schaden Sorglosigkeit, Unachtsamkeit und Ignoranz für die Lebensqualität unserer überfüllten Städte und Landschaften bedeutet. Während früher, vor Jahrzehnten, vor allem in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, die Stadtplanung und Stadtpflege aus gärtnerischer Sicht grosse Sünden beging, sind es heute die Privaten, die Haus- und Garteneigentümer, die sich versündigen. Der Gipfel der Ignoranz sind diese „pflegeleichten Steingärten“, die leider vor allem in stadtnahen Einfamilienhausquartieren epidemisch um sich greifen. Da wird der gesamte Grund, vielleicht noch mit der Ausnahme eines klinischen Stücks Rasen (selbst künstlichen habe ich schon gesehen) rund um das Einfamilienhaus mit Schotter zugedeckt, damit man ja keine Gartenarbeit hat. Diese traurigen Steinöden gehören Leuten, die „gerne auf dem Land leben“, aber die Mühen, die Verantwortung und den Luxus des Landlebens sich nicht leisten können oder sich nicht leisten wollen. Ein Garten braucht Zeit, viel Zeit! Wer keine Zeit hat, braucht keinen Garten und wohnt doch besser in der Stadt, wo die Wege zwischen Arbeit, Einkauf und Zerstreuung kürzer sind. Wir müssen unser Land aufräumen. Wir müssen die Landschaften vom Geschwür der Zersiedelung erlösen und die Städte gartenarchitektonisch aufwerten. Eigentlich ist die Schweiz ein grosser Garten, in welchem die Buben zu viele Autobahnen und kleine Häuschen gebaut haben.
„Il faut cultiver notre jardin!“ (Voltaire, ‚Candide ou l’optimisme‘)
Einige weitere Bücher
- Rudolf Borchardt. Der leidenschaftliche Gärtner. Berlin 2016
- Karel Čapek. Das Jahr des Gärtners. Frankfurt a. M. 2015
- David E. Cooper. A Philosophy of Gardens. Oxford 2006
- Robert Harrison. Gärten. Ein Versuch über den Menschen. München 2010
- Lafcadio Hearn. In einem japanischen Garten. Zürich 1990
- Mathias Gunz & Christian Mueller Inderbitzin. Thurgau – Projekte für die Stillen Zonen. Sulgen 2008
- Nadine Olonetzky. Sensationen – eine Zeitreise durch die Gartengeschichte. Basel 2007
- Eeva und Ulrich Ruoff. Zeit für Gärten. Frauenfeld 2007
- Hans von Trotha. Im Garten der Romantik. Berlin 2016